Die Verborgene Schrift
Augenblick schlecht gewählt sei, sich brotloszu machen. Nun tobten sie sich in Umzügen und Marseillaise-Singen aus. Man hatte den alten Revolutionsgesang wieder freigegeben, und seine erregenden Rhythmen, die ehemals gegen die Fürsten geschleudert waren, tönten jetzt für die Dynastie. Aber in den rauhen Kehllauten der guten Elsässer bekamen die Worte doch etwas sonderbar Grollendes, das weit besser zu ihrem eigentlichen Inhalt paßte als das prahlende Geschmetter der Franzosenkehlen:
»Contre nous de la tyrannie
l'étendant sanglant est levé«
sangen sie. Sie ballten dabei die Fäuste. Und unvermutet gingen sie in das deutsche Volkslied über: »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus«. Das klang wehmütig.
Pfiffer-Schang saß in der Klostergasse auf der schmalen Bank am Stamme der Platane und ließ den Trupp an sich vorüberziehen wie eine Parade.
»Jo, jo, Soldätle spiele un uf d'r Gasse ummebrülle widder d' riche un vornehme Litt, sell g'fallt euch jetz. Awer im ›Luschtige Bruder‹, wo d'r Pfiffer-Schang 's nämlige proponiert hett, do sin sie mit d'r Fauscht uf'n losgange un han ihn halb tot g'schlage. Die elendige Chaibe, die net springe wolle, wie's d'r Pfiffer-Schang vorspielt!«
Schadenfroh sieht er die Gasse hinauf, in der sie verschwunden sind.
Revanchiere wird er sich scho! D' Madame Tränkele het'n geschtere z' Nacht scho Widder a document brocht üs'm Rathüs, do drinne steht: M'r hett Angscht z' Paris in de Tuileries vor dene Wackes im Ländle, un d'rwege soll d'r Maire recherches mache, ob m'r en cas de guerre dene Litt könnt Waffe in d' Händ gebe.
's brucht nix witer, als daß er auf Paris berichtet, was er grad g'hört hett, sell G'schrei un Manövre mit d'r Händ, un wie se gliech d'rno gsunge han wie d'Schwowe. Noch hitt z' Nacht wird er sin Schriewes mache un inüwer trage zum Préfet du Haut-Rhin . A güti récompense han sie'm versproche fir jede nouvelle .
Mit scharfen Augen sah er nach dem Haus hinüber.
Qui sait, er macht am End' noch wichtige découvertes !
Wie er da an der Platane hockt, zusammengeduckt in seinem schmutzigen, gelbbraunen Röckchen, gleicht er einer bösen Geschwulst an dem gesunden alten Baum.
Im Balde-Hause hatte man nicht viel bemerkt von dem, was draußen vorging. Jeder war mit sich beschäftigt. Ein großes Rüsten zur Abreise. Man hatte sich, wie jetzt immer, frühzeitig nach dem Nachtmahl getrennt. Jeder ging in sein eigenes Zimmer.
Bei den Dugirards wurde umständlich gepackt. Den Fabrikanten hielt es nicht mehr hier in der Provinz, seit er Paris voll Ereignis wußte. Er mußte dabei sein, auf den Boulevards stehen und den Zeitungsausrufern ihre noch nassen Blätter aus der Hand reißen, beim Absinthglas in den Cafés politisieren, dabei einmal wieder elegante Frauen sehen, Französinnen. Denn Paris würde nicht leer mehr sein, trotz des Sommers, die Welt würde dorthin zurückkehren wie er, um das Schauspiel der Kriegsrüstung zu genießen.
Er saß rauchend im Lehnstuhl, las in der Zeitung und ordnete an. Louison, von der kleinen Désirée aufs eifrigste gestört, lief hin und her mit Kartons, Wäsche, Kleidern, Lucile glättete an ihren Bändern. Sie sah nachdenklich aus. Hatte man sie nun eigentlich verlobt mit Victor Hugo oder nicht? Ihr Vater sagte ihr nichts, und der junge Mann selber zeigte sich zerstreut und nachlässig. Nicht einmal ein Geschenk hatte er ihr geschickt zum Abschied. Am Ende fand mamam doch in Paris eine bessere Partie für sie, mit einem richtigen Franzosen.
Auch Hortense drüben in ihrer Stube bereitete ein Köfferchen. Fieberhaft, unschlüssig, was sie wählen sollte für den kurzen Ausflug. Armand hatte telegraphiert. Er hatte Befehl, mit seiner Division über Altkirch nach Mülhausen und von dort weiter nach der Grenze zu marschieren. » Aimez-moi bien. Réponse,« schloß das Telegramm. Diese Antwort nun wollte sie selber sein. Und schön wollte sie sich machen für ihn, ihm nicht zeigen, wie enttäuscht sie war, daß er nicht nach ihr verlangte zum Abschiednehmen. Stolz, der sich versagen, und Liebe, dienicht länger entbehren wollte, ließen sie das eben eingepackte rosa Nachtkleid wieder herausreißen, auf das Bett werfen und wieder einpacken. Wer weiß, ob Armand nicht bis zum nächsten Tage in Mülhausen bleiben und im Hotel mit ihr zusammen sein könnte! Ihre Hände flogen und brannten. Sie war perlblaß.
Nebenan in Françoises Zimmer war es ganz still. Das junge Mädchen stand an der Kommode und
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