Die Verborgene Schrift
fürchtet, daß die Badenser in Kehl die Schiffbrücke sprengen. Die Straße nach Kehl sei bedeckt mit Gepäckwagen und Reisewagen, Franzosen fliehen von Deutschland zurück und umgekehrt die Deutschen aus Frankreich. Auf dem Bahnhof ganze Berge von Gepäck. Diebstähle. Die kleinen Forts, in denen die Douaniers wohnten, sind rasiert. Punkt zehn Uhr abends schließt man die Tore.«
»Und werden Sie in Straßburg bleiben können?« fragte Françoise.
»Warum nicht? Frankreichs Sieg wird nicht lange auf sich warten lassen, und dann ist die alte Ordnung wiederhergestellt.«
»Nein, er wird nicht auf sich warten lassen,« wiederholte Frau Balde mit glänzenden Augen.
Martin Balde bog sich vor. Er betrachtete die beiden, die, Hand in Hand, erregt und heiß wie Liebende vor ihm standen. »Sie sind dessen gewiß? Um so schlimmer, wenn es diesmal anders käme. O, das ist möglich. Es sind junge respektlose Emporkömmlinge, die Leute von diesseits unseres Rheins, die mit ihrer Zungen Kraft euer geliebtes, feines, üppiges und gealtertes Land bedrängen werden.«
»Frankreich bedrängen? Das wird niemals geschehen, wir kommen ihnen zuvor!«
Sie blickten über die anderen hinweg, als wären nur sie beide, die wirklichen Franzosen, in dieser Frage zuständig.
»Morgen können wir die Prussiens auf der Spitze unserer Bajonette balancieren,« setzte Blanc mit blitzenden Augen hinzu.
Balde lächelte. – »Sieh da, wie der Krieg alles Verborgenste zutage bringt. Wer hätte in dem sanften, schmalschultrigen Pfarrer einen so kriegswütigen Soldaten vermutet? Aber es ist wahr« – er richtete sich auf und dehnte sich ein wenig – »es ist wahr. Jeder von uns Männern trägt wohl im Verborgenen ein Stückchen Wildheit mit sich herum in seinem Blute, eine Wildheit, für die in unserer bisherigen Kultur kein Platz war. Jetzt, da Krieg werden soll, fühle auch ich ganz deutlich in mir die uralte elsässische Rauflaust.«
Er machte eine scherzhafte Bewegung, als wollte er die Ärmel hochstreifen zum Kampfe. Frau Balde sah ihn betroffen an. Sie hatte, ohne ganz zu verstehen, eine verhaltene Drohung herausgehört aus den lächelnden Worten. Und jetzt tauschten Vater und Tochter einen Blick. Denselben Blick des Einverständnisses, mit dem sich die Geschwister vorhin umfaßt hatten.
Es war wie zwei Parteien, die sich trennen.
Ein Außenstehender, der in diesen Tagen das Städtchen Thurwiller besucht hatte, wäre vielleicht auf den Gedanken gekommen, man rüste eine große Hochzeit, oder es stehe sonst eine festliche Begebenheit bevor. Überall begegnete man froh aufmerksamen, erwartungsvollen Gesichtern, die Wirtshäuser waren gefüllt mit laut redenden Menschen, deren jeder ein Höhrrohr nach den Tuilerien zu haben schien, so genau wußte er Bescheid mit allen Wünschen und Absichten der Regierung. Die Damen gaben Nachmittagsgesellschaften, in denen es bei Kaffee und Süßigkeiten hochpolitisch zuging. Für die Dienstmädchen wieder bildete die Backstube des Frietags-Nazi ein Rendezvous. Immer war da große Versammlung, und die Brettkuchen, die im Ofen des Backhauses dieletzte Weihe erhalten sollten, verbrannten häufiger in dieser Woche als sonst je.
Bäcker-Nazi mit seinem von der Hitze verbrannten Blute war ein leidenschaftliches Klatschmaul. Er wußte alles im Städtchen. Die Mädchen trugen ihm zu, und seine Phantasie tat das übrige. Angeregt wurde sie bereits in ruhigen Zeitläuften durch die Makulaturbogen der Gerichtszeitung, die er als Backunterlage von einer Kolmarer Druckerei bezog und eifrig studierte. Jetzt aber erreichte sie eine fast dichterische Höhe. Der schwitzende Mann hatte sich eine Papiertüte auf den Kopf gestülpt und hielt Vortrag. Seine lebhaften schwarzen Augen funkelten erschreckend umher unter den dicken, runden Brauen, wahrend er die Fürchterlichkeiten schilderte, die geschehen würden, wenn man dem Verlangen der Arbeiter nachgeben und sie für den Krieg bewaffnen würde. Er malte alle Verbrechen aus, die sie begehen konnten.
Er, der Bäcker-Nazi, war nicht eingenommen für die Besitzlosen.
Inzwischen herrschte in den Straßen eine Geschäftigkeit, die sonst hier ungewohnt war. Man sah tannengeschmückte Bretterwagen, gefüllt mit Tonnen und Paketen; manche der Wagen trugen frisch gemalte Schilder. »Patriotismes« stand auf einem, auf dem andern »Envoi de la ville de Thurwiller« . Vor der Apotheke bepackte man eifrig einen elegant gestrichenen Wagen, den die Firma Schlotterbach an die
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