Die Verborgene Schrift
kramte aus einer bunten Schachtel ihre paar Liebesschätze heraus: die Kornähre, die nun hart und trocken war, und den Zettel, den »Petit-Singe« ihr aus Bollwiller heimgebracht hatte, rasch mit Bleistift geschrieben, die Buchstaben unregelmäßig, wie fliehend. »Leb' wohl, bewahr' Dich mir.«
Sie nahm das Briefchen heraus, das sie von seiner Mutter hatte. Eine feine Jungmädchenschrift, die Briefbogen mit einem blauen Bändchen. Es wehte ein Hauch von Unschuld und Liebesbereitschaft durch diese Zeilen, der Françoise rührte. Unsicherheit zugleich und Würde sprachen aus den Worten, mit denen ihre künftige Schwiegermutter sie begrüßte. Zuerst hatte Françoises französisches Empfinden sich gewehrt gegen dieses deutliche Aussprechen von Beziehungen, die sie, ihrer Gewohnheit nach, als noch unberührbare eigenste Intimität betrachtete. Einen Brautstand kannte sie nicht bisher, nur Werbung und Heirat. Nun aber las sie wieder und wieder jede Zeile dieses sanften Mutterbriefes aus dem fremden deutschen, Lande: »Ich weiß, daß die Wahl, die mein Sohn getroffen hat, auch für mich die glücklichste sein muß. Heinrich hat mir bis heute noch keine einzige Enttäuschung, keine einzige trübe Stunde bereitet. Und gerade jetzt in dieser ernsten Zeit ist mir der Gedanke tröstlich, daß mit mir noch eine andere Frauenseele ihm ihre Ströme von Liebe und Kraft entgegenschickt. Ich bin des festen Glaubens, daß die ihn schützen und tragen werden und ihn uns gesund zurückbringen.«
Françoise küßte den Brief, ehe sie ihn wieder weglegte. Sie meinte in der gründlichen und gewissen Art, wie diese Leute liebten, etwas von dem zu finden, was auch in Gottfried Keller ihr sonderbar und ein ganz klein wenig hilfsbedürftigerschien. Sie schlug sich die Stelle auf, da der grüne Heinrich zu Judith, die er liebt, sagt: »Treue und Glauben müssen in der Welt sein, an etwas Sicheres muß man sich halten, und ich betrachte es nicht nur für meine Pflicht, sondern auch als ein schönes Glück im Hinblick auf unsere gemeinsame Unsterblichkeit, einen klaren, so lieblichen Stern für das ganze Leben zu haben, nach dem sich meine Handlungen richten können.«
Hätte nicht auch ihr Heinrich so schreiben können?
Und dann, wie ein bestes Gericht, das man sich auf zuletzt aufhebt, las sie noch einmal wieder all die lieben Worte, die er ihr geschickt hatte. Aus Jena. Hier war seine Schrift sparsam eng aneinandergereiht und steil, fast pedantisch. Aber die Worte waren wie Ströme von Zärtlichkeit. Sie durchbrachen immer wieder alle seine braven Versuche, vernünftig und zusammenhängend zu erzählen. Françoise erfuhr von seinen Rüst- und Abschiedstagen da oben bei den Seinen. »Abends singen wir alle meine Lieblingslieder, die Mutter mischt ihre kleine, müde Stimme in die der Jugend. Heute ist mein Schwager fortgegangen. Meine Schwester ist tapfer und tätig. Morgen gehe dann ich. Zuerst nach der Pfalz. Wohin weiter, erfährt man erst, wenn man auf dem Marsche ist.« Am Schluß dann noch einmal ein paar verhaltene heiße Liebesworte: »Wie kurz, wie kurz ist alles gewesen zwischen uns!« Und ganz zuletzt: »Wir glauben hier alle fest an den Sieg der gerechten Sache.«
Auch die letzte Karte las sie dann noch, schon aus der Pfalz. »Ich werde wohl nicht mehr direkt an Dich schreiben können,« hieß es da zuletzt. »Die Post befördert nicht nach Feindesland.«
Françoise nahm das Kärtchen in die Hand. Sie stieg auf den Fenstertritt und setzte sich da am Nähtisch nieder.
Nach Feindesland!
Drinnen pfiff jetzt Hortense, bubenhaft, wie sie als Kind gewesen, sich beim Packen ein Liedchen:
»Marlbourough s'en va-t-en guerre. «
Françoise blickte über Garten, Gassenschlupf, Dachfirsten und Bäume auf ihr liebes Land hinaus: Felder, Pappeln, Wälder und Berge.
Ihr schönes Elsaß!
Sie sah den Krieg vor sich, wie er über die Felder schritt, Bilder voll Roheit und unbekannter Schrecken. Sie sah die Heere kommen, sehnige Franzosen und wuchtige Deutsche, sah sie ringen miteinander, hier auf ihrem Heimatboden, sah sie die Erde zerfetzen mit ihren Tritten, Pferden und Kanonen, das Land verwundet und blutend zwischen ihnen, wie ein Tier, das zwischen aufgereckten Speeren hin und her ängstet. Und sie, sie selbst war dieses Tier, das man zerfetzte. In ihrem eigenen Herzen hatte man den Kampfplatz aufgeschlagen, auf dem die Schlacht entschieden werden sollte.
Sie neigte sich nach vorn. Ein entsetzliches Gefühl von Zerrissenheit, das
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