Die Verborgene Schrift
sich bis zum wirklichen Körperschmerze steigerte, machte sie fast ohnmächtig. Sie erhob sich, sie kämpfte gegen das, was sie schwach machen wollte. Und als grenzenloses Glück ward ihr bewußt, daß trotz aller Scheidungen, die sich zwischen ihr und Heinrich auftaten, sie dennoch tief und sicher einander angehörten.
Niemals könnte sich das ändern, dachte sie.
Die Wärme kam ihr zurück, der Krampf war vertobt. Mit einer sanft ergebenen Gebärde schloß sie die bunte Schachtel. Lange Zeit würde sie nichts Neues mehr hineinzulegen haben. Sie öffnete das Fenster. Herrlich duftete der durch den Regen erquickte Garten herauf, porzellanen leuchteten die Lilien unten auf dem runden Weg vor ihren Fenstern, ganz voll Tropfen, die schwach blinkten. Die fernen Wetterleuchten am Horizonte hatten etwas Tröstliches, die krummen Birnbaumäste wanden sich schwarz und phantastisch wie feuchte Schlangen durch ihr grünes Laub, vom Dach floß singend die Rinne ins Regenfaß, alles draußen lockte und versprach Freude. Da band sie sich ihr Haar zusammen, tauschte ihr Kleid und ging in den von Sternen erleuchteten Garten hinunter. Sie liebte es, draußen so im Dämmer herumzuarbeiten. Sie band abgerissene Stauden frisch an ihre Pfähle, harkte dann ihre eigenen Fußtritte wieder glatt, schüttelte das Wasser aus den Rosenköpfen, schnitt welke Blüten ab, sorgsam bis zum nächstenAuge, und schüttelte sich wohlig, wenn ihr Büsche und Bäume Tropfen auf ihren warmen Nacken regnen ließen.
Die Arme voll Blumen, lief sie wieder ins Haus zurück. Vor des Vaters Glasvorbau blieb sie stehen und lugte hinein. Er war leer. Die Stubentür stand auf. Drinnen saß Martin Balde ganz allein bei seinem Arzneikasten. Er füllte und versiegelte Fläschchen.
Françoise beobachtete ihn eine Weile unbemerkt. Es lag etwas Einsames über seinem Wesen. Wo mochte maman bleiben, die ihm sonst immer Assistentendienste tat?
»Soll ich helfen, Papa?« rief sie und war bereits bei ihm. Er sah auf. Jetzt hatte er wieder sein altes Lachen im Gesicht. Françoise ließ sich anstellen. Der Vater erklärte ihr, er wolle auf die Dörfer im Umkreise die notwendigsten Medikamente schicken, damit Pfarrer und Bürgermeister sie im Notfall abgeben könnten bei Erkrankungen. Er sähe voraus, daß Post, Omnibus und gar Bahn in nächster Zeit nur für das Militär gebraucht würden. Auch an Binden und Salben hatte er gedacht. »Denn in dere hitzige Zitt fahre d' Litt gliech ufenander un schlage sich d'r Schädel bluetig, voilà .«
»Wo ist maman ?« fragte Françoise.
Balde wies zu Blancs Stube hinauf. » Maman nimmt Abschied von ihrem cher frère . Er reist morgen. Schon a Stund lang stecke sie da owe.«
»Bist du jaloux, mon vieux ?« Es hatte etwas Schmerzliches in seinem Tone mitgeklungen.
Balde sah sie überrascht an. »Ja, ich bin jaloux ,« sagte er dann. »Nicht grad um deinen guten Onkel, mais vois-tu , Monsieur Blanc, das isch für deine Mamme la France, le protestantisme, son enfance, tout ensemble . Grad alles das, was mir net sin für sie, nous autres Alsaciens «.« Er wollte vielleicht scherzen, aber es gelang ihm nicht. Den Blick zu jenem Giebelfenster aufgerichtet, fuhr er fort zu sprechen, halb zu Françoise, halb zu denen da oben: »D' Kinderzitt, vois-tu , die geht immer mit eim. Meischt g'sieht m'r sie net. Sie haltet sich z'ruck. M'r hören ihre Stimm net in dem Lärm, wo mir selwer mache. Befallt uns awer Not, n'importe Krankheit,Alter, Zweifel – gliech isch sie do und redt uns an mit unsere alte Name d'autrefois. Maman isch a bitzi weng furt gange von uns in dene letschte Tag. Sie isch mit ihrem Bruder gange mit ihrer râce , a Stickle heimeszu, dans leur patrie à eux . Aber da isch sie, la voilà ,–,« fügte er in munterem Ton hinzu. Er richtete sich gerade.
»Wünsche unserem Bruder gute Reise, lieber Freund,« sagte Madame Balde, die mit Blanc hereintrat, auf französisch. »Ah, aber ich bin Faulenzerin, ich habe meine Pflicht bei dir versäumt.«
Balde nickte ihr freundlich zu. »Du siehst, Françoise hilft mir. Sie reisen bereits heute nacht?« fragte er dann.
Blanc nickte. »Madame Blanc ist allein mit den Kindern in Straßburg, der Krieg wird ihr Furcht einflößen. Straßburg ist in größter Erregung. Die Fakultäten werden wahrscheinlich beurlaubt. Eine große Zahl der Studierenden gehört zur garde mobile . Meine Frau schreibt mir, die französischen Militärposten gegen den Rhein hin werden verdoppelt. Man
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