Die verborgene Seite des Mondes
sehen, eher ein wenig frustriert. Julia musterte ihn. Teerschwarzes Haar, in der Mitte gescheitelt, fiel in Stufen zu beiden Seiten seines Gesichts herab bis auf die Schul tern. Die schrägen Augen unter den dichten Brauen waren sehr dun kel und seine Nase zeigte leicht nach links. So finster, wie er drein blickte, war er vermutlich nicht erfreut über ihre Anwesenheit. Julia versuchte sein Alter zu schätzen, konnte es aber nicht. Vielleicht war er so alt wie sie, vielleicht aber auch schon über zwanzig. Er sah jung aus und doch alt.
»Ich bin Julia, Ada und Boyds Enkeltochter. Und du bist Simon?«
»Hm.« Sichtlich verlegen blickte er zu Boden und kraulte Pips queak hinter den Ohren.
Merkwürdig, dachte sie. Mit dem Kälbchen hatte er geredet, mit seinem Hund auch, aber bei ihr brachte er kein Wort heraus. Viel leicht war es sein schlechtes Gewissen, das ihm zusetzte. Hatte er ihr vergangene Nacht etwa hinterherspioniert?
»Du hast mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt, heute Nacht«, wagte sie die Flucht nach vorn. Julia lächelte wieder. Er sollte nicht glauben, dass sie nachtragend war.
»D-d-das . . . also das tut m-ir leid«, stotterte er.
Oje, er schämte sich wirklich. »Na, so furchtbar war es nun auch wieder nicht.«
»Hast d-u dir w-w-wehgetan?« Er sah sie kurz an und deutete auf ihr Knie.
»Ist nicht der Rede wert.«
»N-a denn. Ich muss jetzt die K-K-Kühe füttern.« Er pfiff nach sei nem Hund, der sich sofort in Bewegung setzte.
Es brauchte noch einen Moment, bis Julia begriff: Simon stotterte nicht aus Verlegenheit. Er war verlegen, weil er stotterte. Die Worte schienen ihm wie kantige Steine im Mund zu liegen, wenn er mit ihr sprach. Merkwürdig. Als er mit dem Kälbchen geredet hatte, war ihr das gar nicht aufgefallen.
Neugierig sah sie ihm hinterher.
Simon lief zu den Kühen, die in ein extra Gatter gesperrt waren. Das Kälbchen folgte ihm, als wäre er die Mutter. Und der junge Hund trottete den beiden hinkend hinterher. Eines seiner Hinter beine hing wie leblos herab.
»Kann ich mitkommen?«, rief Julia.
»I-ch . . . also, ich arbeite l-l-lieber alleine«, war seine Antwort.
Eine Weile stand sie noch am Tor und sah zu, wie Simon Heu an die jungen Kühe verteilte. Ein wenig wunderte Julia sich darüber, dass sie um diese Jahreszeit Heu bekamen, wo doch nur wenige Me ter hinter der Ranch die grasbewachsenen Berge begannen. Viel leicht hatte das mit dem BLM zu tun, dieser Landverwaltung, von der Hanna erzählt hatte. Sie nahm sich vor, ihre Großmutter bei Ge legenheit danach zu fragen.
Julia setzte ihren Rundgang über die Ranch fort. Sie lief einen be wachsenen Weg an den Zäunen entlang, bis sie auf dem Schrott platz in der Kurve angelangt war. Dort kehrte sie um und wanderte langsam zum Ranchhaus zurück. Während der ganzen Zeit ging ihr der stotternde Junge nicht aus dem Sinn.
Simon war froh, dass Julia ihn nicht weiter beobachtete. Er kam sich vor wie ein Volltrottel. N-a denn, ich muss jetzt die K-K-Kühe füttern. Et was Besseres war ihm nicht eingefallen, um sie wieder loszuwerden.
Wo er sie doch eigentlich gar nicht loswerden wollte.
Er war wie vom Donner gerührt gewesen, als Julia plötzlich vor ihm gestanden und ihn angesprochen hatte – mit einer ungewöhn lich dunklen Stimme für so ein zierliches Mädchen. Einer Stimme, die warm war und rund wie sonnengewärmte Kiesel.
Julia hatte ihre Aufmerksamkeit voll auf ihn gerichtet. Dieser Blick aus ihren großen grünen Augen musste ihn unweigerlich sprachlos machen. Während seines Gestotters hatte Simon in ihrem Gesicht nach Anzeichen von Belustigung oder Mitleid gesucht. Aber Julia hatte nicht verlegen weggesehen und ihn auch nicht milde belä chelt. Stattdessen hatte sie geduldig gewartet, bis er seine holpri gen Sätze beendet hatte.
Hoffentlich hatte sie nicht bemerkt, dass er vor ihr geflohen war. Simon arbeitete lieber allein, das war keine Notlüge gewesen. Die Nähe von anderen Menschen machte ihn nervös – er legte keinen Wert auf Gesellschaft.
Mit dem alten Mann war das etwas anderes. Sie verstanden sich auch ohne Worte. Deshalb arbeitete Simon gerne mit Boyd. Aber diesem fremden Mädchen hätte er alles erklären müssen. Wahr scheinlich kam sie aus der Stadt und fand Kühe toll. Mit Sicherheit hätte sie ihm eine Frage nach der anderen gestellt und seine Ant worten wären ein einziges peinliches Wortgewitter gewesen.
Wie Simon sein Stottern verfluchte. Immer dann, wenn es darauf ankam, war es
Weitere Kostenlose Bücher