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Die verborgene Seite des Mondes

Die verborgene Seite des Mondes

Titel: Die verborgene Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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besonders schlimm. Auf einmal schienen alle Buchstaben Stolpersteine zu sein, nicht nur die verflixten M-, N-oder K-Worte.
    Aber wie auch immer: Nun wusste sie es. Und selbst wenn Julia sich nichts hatte anmerken lassen: Nach den ersten beiden verun glückten Begegnungen musste sie ihn unweigerlich für einen komi schen Vogel halten, einen einfältigen Spinner.
    In Zukunft würde sie ihn ignorieren, wie die meisten Besucher, die auf die Ranch kamen. Und genau so war das am besten.
    Zum Mittagessen, es gab Gulasch und Makkaroni, erschien jeder, wann er wollte, nahm sich etwas auf den Teller und aß, wo er woll te. Ada fütterte Tommy, während Julia mit ihrer Mutter am Küchen tisch saß. Es war kein appetitlicher Anblick, ihrem behinderten Cou sin beim Essen zuzusehen. Er sperrte den Schnabel auf, zeigte seine schlechten Zähne, schmatzte und stöhnte. Manchmal verschluckte er sich und hustete, dann verteilte er das, was er im Mund hatte, über den Tisch. Aber Julia blieb sitzen, bekämpfte ihren Ekel und aß tapfer ihren Teller leer.
    Simon hatte Hanna mit einem Nicken begrüßt und ihr nach einem gestotterten »Freut mich, Sie kennenzulernen« keine Gelegenheit mehr gegeben, ihn anzusprechen.
    Nach dem Essen verzog er sich schnell. Auch der alte Mann ging wieder an seine Arbeit und Julia, die das Abwaschen übernommen hatte, stellte auf einmal fest, dass sie ganz allein in der Küche zu rückgeblieben war.
    Nein, nicht wirklich allein. Tommy hockte im Wohnzimmer auf dem Teppich und seine blicklosen Augen schienen sie anzusehen. Er schaukelte nicht, wie er es sonst meistens tat. Julia hatte den Ein druck, als ob der Junge lauschte. Als ob er nachdachte.
    Tommy konnte nichts sehen und sie bezweifelte, dass er denken konnte. Wusste er, dass sie es war, die in der Küche hantierte, und nicht seine Großmutter? Julia hätte mit ihm reden können, etwas Nettes zu ihm sagen können, aber ihr fiel nichts ein. Vielleicht begann er wieder so fürchterlich zu schreien, wenn er eine fremde Stimme hörte?
    Julia fühlte sich schrecklich hilflos in Tommys Gegenwart. Was, wenn der Junge instinktiv wusste, dass sie sich vor ihm fürchtete? Vielleicht war dieser milchige Schleier auf seinen Augen durchschei nend und er konnte Umrisse erkennen, Bewegungen ausmachen? Der Moment war unheimlich und Julia schwankte zwischen Unbe hagen und Neugier. Ganz offen starrte sie ihren verwachsenen Cou sin an und fragte sich, was in seinem langen Schädel vor sich ging.
    Tommys Gesicht war dreckverschmiert und die Hände hätten ebenfalls Wasser und Seife vertragen können. Seine vorstehenden Zähne stießen Julia ab, trotzdem konnte sie den Blick nicht von ihm wenden. Ihr einziger Cousin war eine traurige Missgestalt. Sie war wild darauf gewesen, ihre indianische Familie kennenzulernen. Wa rum hatte ihr Vater nie von seinem schwerbehinderten Neffen er zählt? Schließlich war er der einzige Sohn seiner Schwester.
    Julia zuckte zusammen, als Tommy sich plötzlich auf Knien vor wärtsbewegte. Er benutzte seine Hände und die verwachsenen Bei ne sehr geschickt, um zielstrebig zu ihr hinzurutschen. Als ob sie ei nen Peilsender an sich hätte. Julia trat ein paar Schritte zurück, bis sie die Kante der Spüle im Rücken spürte. Dort stand sie wie er starrt, unfähig, sich zu rühren oder etwas zu sagen.
    Als Tommy sie erreicht hatte, hob er eine Hand und umfasste ihre Rechte. Seine Zielsicherheit erstaunte Julia. Sie ahnte, dass sein ver krümmter Körper ungeheuer kräftig sein musste, denn ihre Groß mutter hatte am vergangenen Abend erzählt, dass Tommy die Fens terscheiben auf dem Gewissen hatte und auch sonst nicht zimper lich mit der Einrichtung umging.
    Doch er war nicht grob. Ganz vorsichtig fasste er zu und zog an ihrer Hand. Tommy gab dabei merkwürdige Klickgeräusche von sich, eine Art wortlose Sprache, die immer eindringlicher wurde. Julia folgte ihm ins Wohnzimmer, hatte jedoch keinen blassen Schimmer, was er von ihr wollte. Sie fühlte sich hilflos und dumm, weil sie Tommys Wunsch nicht begriff.
    Wie musste er sich dabei fühlen?
    Plötzlich liefen Tränen über ihre Wangen, aber sie hätte nicht sa gen können, warum. Obwohl sie keinen Laut von sich gab, schien sich das leise Beben ihres Körpers auf Tommy zu übertragen und es kam ihr so vor, als würde er ihre Hand tröstend streicheln.
    In diesem Augenblick trat Simon in die Tür und blieb überrascht stehen. Verwundert sah er sie an und Bestürzung breitete sich auf seinem

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