Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
Brust und überprüfte mit dem Zeigefinger, ob es auch richtig andockte.
»Iss weiter, großes Mädchen«, meinte sie lobend.
Wir beobachteten das Baby beim Trinken. Es hatte die Augen geschlossen, an der Schläfe pochte ein Puls. Es war das Letzte auf der Welt, womit ich je gerechnet hätte: Ich stillte ein Baby. Doch Mutter Rubina bestand darauf, dass es das Beste für uns beide sei. Das Baby würde gedeihen, wir würden uns einander annähern, und mein Körper würde schneller wieder in Form kommen. Wie sie hinzufügte, hatten nicht alle Mütter die Geduld und die Selbstlosigkeit dazu, doch sie wisse, dass ich sie besäße. Ich hätte sie nicht enttäuscht.
Ich war ebenfalls stolz. Stolz darauf, dass mein Körper alles bereitstellte, was mein Baby brauchte. Und stolz, weil ich das gnadenlose Zupacken seiner Kiefer ebenso aushielt wie das Gefühl, dass sich Flüssigkeit aus den Tiefen meines Körpers in die Tiefen des Körpers meiner Tochter übertrug. Das Baby trank über eine Stunde lang, aber das störte mich nicht. Das Stillen gab mir die Zeit, sein Gesicht zu betrachten und mir die kurzen, geraden Wimpern, die kahlen Brauen und die stecknadelkopfgroßen weißen Pünktchen auf Nase und Wangen einzuprägen. Wenn sie kurz die Augen aufschlug, musterte ich das dunkle Grau und suchte nach Anzeichen dafür, ob sie später einmal braun oder blau sein würden. Würde sie Grant ähnlich sehen? Oder war sie nach einem Verwandten mütterlicher- oder väterlicherseits geraten, dem ich nie begegnet war? Bis jetzt erkannte ich noch nichts an ihr.
Mutter Rubina machte Rührei und las mir dabei aus einem Buch über Babypflege vor. Sie fütterte mich mit kleinen Bissen, während sie mich den Text abfragte. Ich lauschte aufmerksam und wiederholte jede Antwort wörtlich. Als das Baby einschlief, hörte Mutter Rubina auf zu lesen und weigerte sich fortzufahren, obwohl ich sie anflehte.
»Schlaf, Victoria«, sagte Mutter Rubina und klappte das Buch zu. »Das ist das Wichtigste. Die Hormone nach der Geburt können die Wirklichkeit verzerren, wenn man nicht mit ausreichend Schlaf gegensteuert.« Sie streckte die Arme nach dem Baby aus. Obwohl der Schlaf mich zu überwältigen drohte, zögerte ich, ihr meine Tochter zu geben. Ich befürchtete, die Trennung könnte unwiederbringlich sein. Die Freude, die es mir bereitete, das Baby zu berühren, war neu und trügerisch. Ich war in Sorge, dass ich es nicht mehr ertragen könnte, meine Tochter anzufassen, wenn ich sie jetzt losließ.
Doch Mutter Rubina verstand mein Widerstreben nicht. Sie griff nach dem Baby, und ich schlief ein, ehe ich Zeit hatte, zu
protestieren.
Mutter Rubina war nicht die Einzige, die mich in jener ersten Woche besuchte. Am Tag nach der Geburt kaufte Renata ein Federbett für das blaue Zimmer und einen Weidenkorb für das Baby. Sie musste zweimal laufen, um beides nach oben zu schaffen. Jeden Nachmittag brachte sie uns etwas zu essen. Bei halboffener Tür und die Wange des schlafenden Babys an die nackte Brust gepresst, lag ich auf meinem neuen Federbett und aß Nudeln oder Sandwiches mit den Händen. Renata saß auf einem Barhocker. Wir unterhielten uns nur wenig. Weder sie noch ich konnten miteinander sprechen, solange ich nackt war. Doch im Laufe der Tage wurde unser Schweigen entspannter. Das Baby trank, schlief und trank. Wenn es sich ausgestreckt und Haut an Haut an meinen Körper kuscheln konnte, war es zufrieden.
Am Dienstag, Renata und ich verspeisten wortlos wie immer unsere Mahlzeit, läutete Marlena an der Tür. Inzwischen ging ich nicht mehr ans Telefon, und am nächsten Tag sollten wir den Blumenschmuck für eine Jubiläumsfeier liefern. Renata ließ sie herein. Marlena war ganz begeistert von dem Baby, hielt es im Arm, wiegte es und beruhigte es mit einer Selbstverständlichkeit, die dafür sorgte, dass Renata kopfschüttelnd die Augenbrauen hochzog. Ich bat Renata, Geld aus meinem Rucksack zu nehmen und es Marlena zu geben; sie würde sich allein um die Blumen für die Feier kümmern müssen.
»Nein«, meinte Renata. »Sie soll dir Gesellschaft leisten. Ich erledige das mit den Blumen.« Sie nahm das Geld und auch meinen Terminkalender, in dem ich die Einkaufsliste und die Adresse des Restaurants vermerkt hatte. Renata überprüfte den Kalender. In den nächsten dreißig Tagen war nichts eingeplant.
»Ich bringe dir morgen wieder das Mittagessen«, sagte sie. »Und ich zeige dir die Dekorationen, um mich zu vergewissern, dass du
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