Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
ich in die Küche, legte die Streichhölzer zurück an ihren Platz und schrie nach Elizabeth. Sie stand sofort auf. Ich hörte sie in meinem Zimmer herumpoltern und meinen Namen rufen.
»Hier unten!«, erwiderte ich laut. Ich stand an der Spüle und füllte einen Suppentopf mit Wasser. Die Rohrleitungen des alten Hauses ratterten, und das Wasser floss langsam und in zischenden Wellen aus dem Hahn.
Den vollen Topf in der Hand, durchquerte ich die Küche im selben Moment, als Elizabeth die Treppe hinunterkam. Schulter an Schulter drehten wir uns um. Das Licht zog unsere Blicke an.
Der Himmel war violett. Die Sterne waren verschwunden. Während wir zusahen, erfasste das Feuer den Straßengraben. Ein halber Kilometer trockener Disteln ging innerhalb einer Sekunde in Flammen auf. Die Feuerwand, die sich erhob, schien bis halb in den Himmel hinein zu reichen. Die umliegenden Ländereien waren nicht mehr zu erkennen, so dass Elizabeth und ich ganz allein waren.
Das Feuer breitete sich in Reihen über den ganzen Weinberg aus, wie elektrischer Strom durch eine Leitung gleitet.
13.
B ei Sonnenaufgang erwachte ich. Mein Körper schmerzte, und der Waldboden hatte ein Muster in meine Wange eingegraben. Ich hatte sechs, vielleicht sieben Stunden geschlafen. Ich setzte mich hoch und rutschte von den beiden kreisrunden Pfützen unter dem Heidebusch weg.
Die Stadt begann sich zu regen. Motoren sprangen an, Bremsen quietschten, und Vögel sangen. Auf der Straße unter mir stieg ein Schulmädchen aus einem Bus. Sie war allein und ging, einen Blumenstrauß in der Hand, rasch die Straße entlang. Ich konnte die Blumen nicht erkennen.
Ich atmete aus. Mehr als alles andere wünschte ich mir, wieder ein Kind zu sein und Krokusse, Weißdorn oder Rittersporn anstelle von Eimern voller Disteln in den Händen zu haben. Ich wollte mich bei Elizabeth entschuldigen und sie um Verzeihung anflehen. Wie gerne hätte ich mein Leben noch einmal von vorne angefangen, und zwar auf einem Weg, der nicht in einem Moment wie diesem mündete: nämlich, dass ich allein in einem städtischen Park aufwachte, während meine Tochter allein in einer leeren Wohnung lag. Die Summe meiner bisherigen Entscheidungen hatte mich bis zu diesem Punkt gebracht, und ich wollte alles zurücknehmen. Den Hass, die Schuld und die Gewalt. Ich wollte mein zorniges zehnjähriges Ich zum Mittagessen einladen, es vor dem heutigen Morgen warnen und ihm Blumen schenken, die es in eine andere Richtung weisen würden.
Aber es gab kein Zurück. Nur den Augenblick: diesen Stadtwald und meine wartende Tochter. Der Gedanke erfüllte mich mit Todesangst. Ich wusste nicht, was ich in meiner Wohnung vorfinden würde. Schrie meine Tochter noch oder hatten Zeit, Einsamkeit und Hunger dafür gesorgt, dass ihre Lunge in sich zusammengefallen war wie eine Welle nach dem Überschreiten des Scheitelpunkts?
Ich hatte meine Tochter verraten. Keine drei Wochen nach der Geburt, obwohl ich uns beiden etwas versprochen hatte. Wieder einmal hatte ich versagt. Der Kreis würde sich schließen. Versprechen und Scheitern, Mütter und Töchter, eine Endlosschleife.
14.
M eine Arme fingen an, so heftig zu zittern, dass das Wasser aus dem Suppentopf überschwappte und Elizabeth traf. Die kalte Dusche sorgte dafür, dass sie sich in Bewegung setzte. Sie hastete in die Küche zum Telefon, während ich zur Eingangstür hinausrannte und beim Hinunterlaufen der Stufen über die Marmeladengläser stolperte.
Das Wasser im Topf reichte nicht einmal, um eine einzige Rebe zu retten. Das wurde mir klar, als ich das Feuer sah. Dennoch musste ich es versuchen. Viele Quadratkilometer standen in Flammen. Die Hitze verschlug mir den Atem. Alles, was Elizabeth ein Leben lang aufgebaut hatte, würde vernichtet werden, wenn ich nichts unternahm. Sie würde obdachlos und allein auf verbrannter Erde zurückbleiben. Wenn ich das Feuer nicht löschte, würde ich Elizabeth nie wieder ins Gesicht schauen können.
Auf halbem Weg zur Straße kippte ich das Wasser auf eine Reihe brennender Reben. Falls es zischte oder auch nur eine einzige Flamme verlosch, hörte und bemerkte ich nichts davon. Aus der Nähe war das Dröhnen des Feuers ohrenbetäubend, der Rauch roch süßlich. Der Geruch erinnerte mich an Elizabeths kandierte Äpfel, und mir wurde klar, dass der Duft von den Trauben kam. Den makellos reifen Trauben, die nun verkohlten.
Elizabeth stand auf der Veranda und rief nach mir. Ich drehte mich um. Das Feuer spiegelte
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