Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
umdrehte, erhob sich Elizabeth, die die Bedeutung der Blumen begriff. Wir standen einander gegenüber, und in diesem kurzen, wortlosen Moment brannte die Energie zwischen unseren Körpern, so heiß wie das Feuer, das uns auseinandergerissen hatte.
Ich rannte los. Die Richterin schlug mit dem Hammer auf den Tisch; Meredith rief, ich solle zurückkommen. Ich stieß die Türen des Gerichtssaals auf, stürmte sechs Treppen hinunter, öffnete den Notausgang und trat hinaus. In der hellen Nachmittagssonne blieb ich stehen. Es spielte keine Rolle, in welche Richtung ich floh. Meredith würde mich wieder einfangen. Sie würde mich zurück ins Krankenhaus fahren, mich in einer betreuten Wohngemeinschaft unterbringen oder mich in ein geschlossenes Heim stecken. Acht Jahre lang würde ich von einer Einrichtung in die andere umziehen, wenn sie mich holen kam. Dann, an meinem achtzehnten Geburtstag, würde ich für volljährig erklärt werden und allein sein.
Ich zitterte. Es war ein kalter Dezembertag. Der blaue Himmel trog. Ich legte mich an Ort und Stelle auf den Boden und presste
die Wange an den warmen Beton.
Ich wollte nach Hause.
4.
Z ehn Jahre später bedeutete ich Elizabeth noch immer etwas.
Ihr Brief, zu einem kleinen Quadrat gefaltet und in den BH gesteckt, schabte an meiner Haut, als ich arbeitend neben Marlena saß.
Ich habe dich im Stich gelassen,
hatte sie geschrieben.
Auch ich bereue es bis heute.
Und dann, ganz unten, unmittelbar über ihrem Namen:
Bitte, bitte, komm nach Hause.
Zwei oder drei Mal pro Stunde holte ich den Brief heraus und las die kurzen Sätze noch einmal, bis ich nicht nur die Worte auf der Seite, sondern auch die Form jedes Buchstabens auswendig kannte. Marlena fragte nicht nach, sondern arbeitete einfach schneller, um meine Geistesabwesenheit auszugleichen.
Ich würde zu Elizabeth fahren. Das hatte ich beschlossen, als ich auf dem Randstein neben Renata gesessen und den Brief zum ersten Mal gelesen hatte. Als ich aufstand, wäre ich am liebsten sofort zu meinem Auto gelaufen, über die Brücke und dann über Land zu ihrem Weinberg gefahren. Doch dann sah ich Marlena arbeiten, und ich ging zu ihr, um einen Strauß neu zu arrangieren, hielt kurz inne und griff nach dem nächsten Strauß. Stunden verstrichen. Wir hatten am nächsten Tag einen runden Geburtstag, danach zwei Hochzeiten, die dicht aufeinanderfolgten. Im Herbst herrschte mittlerweile ebenso Hochbetrieb wie während der Sommermonate, da zahlreiche abergläubische Bräute lieber an einem Sonntag im Spätherbst heirateten als eine andere Floristin zu beschäftigen. Diese Frauen mochte ich am allerwenigsten. Sie waren nicht wohlhabend genug, um die übrigen Bräute in den Sommermonaten einfach zu überbieten und freudig eine stilvolle Traumhochzeit zu planen, hatten jedoch genug Geld, um in denselben Kreisen wie diese zu verkehren und sich ständig neidisch mit ihnen zu vergleichen. Meine Herbstbräute waren unentschlossen, während ihre zukünftigen Ehemänner zu viel Nachsicht mit ihnen zeigten. Mehr als einmal waren Marlena und ich zu einer Besprechung in letzter Minute herbeizitiert worden, in der alles bisher Geplante einen Tag vor der Hochzeit umgeworfen wurde, so dass wir wieder ganz von vorne anfangen mussten.
Doch es waren nicht nur die Anforderungen unseres Terminkalenders, die mich neben Marlena ausharren ließen. Die freudige Erkenntnis, dass Elizabeth mich nicht zurückwies, hatte den Schmerz des letzten Jahrzehnts und sogar meine ständige Sehnsucht nach meiner Tochter gelindert. Solange ich nicht hinfuhr, blieben die Versprechen in Elizabeths Brief bestehen. Wenn ich an ihre Tür klopfte, riskierte ich die Begegnung mit einer Frau, die anders war als in meiner Erinnerung – zweifellos älter, aber vielleicht auch trauriger oder zorniger –, eine Gefahr, vor der mir graute.
In dieser Nacht schlief ich unruhig, immer wieder wachte ich auf mit dem Wunsch, zu Elizabeth zu fahren. Doch am Morgen war
die Anziehungskraft des Weinbergs geringer geworden.
Ich beschloss, eine Woche zu warten, höchstens zwei, und dann würde ich sie aufsuchen und wäre vorbereitet für alles, was mich dort erwarten könnte.
Ich war bereits geduscht und angezogen, als das Telefon läutete. Caroline. Ich hatte ihren Anruf erwartet. Während unserer Beratung zeigte sich, dass Caroline nicht wusste, was sie wollte, weder von einer Floristin noch von einer Beziehung. Außerdem wurde sie weinerlich, sobald ich ihr eine Frage stellte,
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