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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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wie immer, doch die Schuppen waren verschwunden. Wahrscheinlich niedergebrannt, dachte ich. Carlos’ Wohnwagen war ebenfalls fort. Allerdings bezweifelte ich, dass das Metall geschmolzen war. Vermutlich hatte er eine andere Stelle gefunden oder war weggezogen, woraufhin Elizabeth den Wohnwagen entfernt hatte. Ohne die verfallenen Nebengebäude erinnerte das Haus eher an ein schickes Hotel als an einen Weinbaubetrieb. Die weiße Farbe leuchtete makellos, auf der Veranda standen zwei Schaukelstühle aus rotem Holz. In der Küche, vor deren Fenster ein Spitzenvorhang hing, brannte Licht.
    Ich blieb auf der untersten Stufe stehen und hörte ein Geräusch wie von einem Stein, der platschend ins Wasser fällt, gefolgt von einem Jauchzen. Elizabeth war im Garten. Den Rücken an die weiße Holzwand gepresst, schlich ich mich ums Haus herum. Elizabeth kauerte nur wenige Meter von mir entfernt barfuß auf dem Boden. Sie hatte mir den Rücken zugewandt. Schlamm sickerte in die Falten an ihren Fersen ein. Als sie sich vorbeugte, stellte ich fest, dass der Spann ihrer Füße sauber und rosig war.
    »Noch einmal?«, fragte Elizabeth, die einen runden Drahtring mit einem abgegriffenen Holzgriff in der Hand hielt.
    Ich entfernte mich von der Wand, um den Garten besser im Blick zu haben. Auf dem Weg vor den Rosen stand eine emaillierte Waschschüssel, halb gefüllt mit Seifenblasenwasser. Ein Baby mit großen Augen griff nach dem Metallring und hielt sich dabei an der Wasserschüssel fest. Es saß auf der Erde und trug nur eine Windel, sein nackter Körper, sein runder Bauch wackelte über dem instabilen Po. Mit ihrer freien Hand stützte Elizabeth das Baby im Rücken ab. In diesem Moment der Unaufmerksamkeit gelang es dem Baby, den Ring zu erhaschen. Sofort steckte es den Ring voller Seife in den Mund und kaute wild darauf herum.
    »Tut mir leid, meine Kleine«, sagte Elizabeth und zog erfolglos an dem Holzgriff. »Das ist ein Ring für Seifenblasen, kein Beißring.«
    Das Baby reagierte nicht. Dann kitzelte Elizabeth seinen Bauch, bis es so lachte, dass das Baby den Metallring losließ. Elizabeth wischte mit ihrem Daumen die Seife vom Mund des Babys ab.
    »Jetzt pass auf«, sagte sie. Sie tunkte den Ring in die Lauge und blies durch ihn hindurch. Seifenblasen regneten auf das Baby herab und hinterließen nasse Kreise, da, wo sie auf seine Schultern und die Stirn trafen.
    Ihr Haar war gewachsen. Dunkle Locken bedeckten die obere Hälfte ihrer Ohren und ringelten sich in ihrem Nacken. Ihre Haut war, wahrscheinlich vom stundenlangen Aufenthalt im Garten, zu einem dunkleren Cremefarbton gebräunt. Und da, wo ich früher mit dem Finger über glatte Kiefer gestrichen hatte, waren nun Zähne. Vielleicht hätte ich sie gar nicht wiedererkannt, wären da nicht ihre Augen gewesen – ihre runden, tiefgründigen, graublauen Augen, die sich nun fragend auf mich richteten wie an dem Morgen, als ich sie in ihrem mit Moos gefütterten Körbchen zurückgelassen hatte.
    Lautlos wich ich zurück, wirbelte herum und rannte zur Straße.

5.
    I ch saß zwischen den jahrzehntealten Pflanzen und betrachtete die wenigen Blüten. Grant hatte die Rosen zurechtgestutzt. Einen halben Zentimeter unterhalb jedes abgeschnittenen Endes schob sich eine dicke rote Knospe aus dem Stamm, aus deren Spitze eine neue Blüte wachsen würde. Wie jedes Jahr würde Grant zu Thanksgiving Rosen haben.
    Nach fünfundzwanzig einsamen Jahren hatte Grant wieder Verbindung zu Elizabeth aufgenommen. In meiner Überraschung war ich sofort zur Gärtnerei gefahren und hatte mein Auto am Straßenrand abgestellt. Da ich den Schlüssel schon vor langer Zeit weggeworfen hatte, war ich über Grants abgeschlossenes Tor gestiegen.
    Aber anstatt an die Tür des Wasserturms zu klopfen, hatte ich mich in den Rosengarten zurückgezogen. Das schüchterne Lächeln meiner Tochter tanzte hinter meinen Augenlidern; ihre Freude wirbelte in mir herum wie das Seifenwasser in dem emaillierten Becken und erfüllte mich. Sie war bei Elizabeth, und sie war glücklich. Die Leichtigkeit in ihrem Spiel ließ mich vermuten, dass sie im Weinberg zu Hause war. Bei diesem Gedanken spürte ich Grants Alleinsein so deutlich wie die Freude meiner Tochter.
    Eine Stunde verging. Mir schwindelte noch immer vom Anblick meiner Tochter, als ich hinter mir Grants Schritte hörte.
    Mein Herz hallte wider wie vor so vielen Jahren auf dem Blumenmarkt, und ich zog die Knie vor die Brust, als wolle ich das Geräusch dämpfen.

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