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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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Grant stellte die Füße auf eine Linie mit meinen und setzte sich neben mich. Seine Schultern berührten meine. Als er mir etwas hinter das Ohr steckte, holte ich es hervor. Eine weiße Rose. Ich hielt sie ans Licht, und ihr Schatten fiel auf uns. Lange Zeit saßen wir schweigend da.
    Schließlich rutschte ich weg und wandte mich ihm zu. Ich hatte Grant seit über einem Jahr nicht gesehen, und er schien älter geworden zu sein, als die Zeit es hätte erlauben dürfen. Falten waren in seine ernste Stirn eingegraben, doch er roch noch genauso stark nach Erde, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich rückte näher, bis sich unsere Schultern wieder berührten.
    »Wie ist sie?«, fragte ich.
    »Wunderschön«, erwiderte er. Seine Stimme war ruhig und nachdenklich. »Gewöhnlich ist sie anfangs schüchtern. Aber wenn sie bereit ist, kommt sie zu dir, klettert auf deinen Schoß und hält dich mit ihren pummeligen Händchen an beiden Ohren fest. Es gibt nichts Schöneres auf der Welt.« Er schwieg einen Moment, löste ein Blatt von der Rose und hielt es sich an die Lippen. »Sie liebt Blumen, pflückt sie, riecht an ihnen und würde sie essen, wenn du sie einen Moment aus den Augen lässt.«
    »Wirklich?«, fragte ich. »Sie liebt sie, wie wir sie lieben?«
    Grant nickte. »Du solltest sie lächeln sehen, wenn ich die Namen der Orchideen im Gewächshaus runterrattere – Oncidium, Dendrobium, Bulbophyllum und Epidendrum – und sie dabei mit jeder Blüte im Gesicht kitzele. Es würde mich nicht wundern, wenn ihr erstes Wort Orchidaceae wäre.«
    Ich stellte mir ihr rundes Gesicht vor, die Wangen gerötet von der Hitze im Gewächshaus und wie sie es an Grants Brust drückt, um dem Kitzeln zu entgehen.
    »Ich versuche auch, ihr die wissenschaftlichen Hintergründe zu erklären«, fuhr Grant fort. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, das voller Erinnerungen war. »Doch das klappt noch nicht so gut. Sie schläft ein, wenn ich anfange, mich über die Geschichte der Familie der Betulaceae oder darüber auszulassen, dass Moos keine Wurzeln hat.«
    Dass Moos keine Wurzeln hat
. Seine Worte verschlugen mir den Atem. Obwohl ich mich mein Leben lang mit der Beschaffenheit von Pflanzen befasste, war mir diese schlichte Tatsache entgangen. Nun erschien es mir, als hätte ich gerade das unbedingt wissen müssen.
    »Wie heißt sie?«, sagte ich.
    »Hazel.« Haselnuss:
Versöhnung
. Grant zerrte an einem hartnäckigen Büschel Kammgras und wich meinem Blick aus. »Ich dachte, sie würde dich eines Tages zu mir zurückbringen.«
    Sie hatte uns in diesem Augenblick tatsächlich wieder zusammengeführt. Die Wurzeln des Grases lösten sich. Grant folgte dem verdorrten Schössling zu der nächsten Stelle, die ihn mit der Erde verband.
    »Bist du mir böse?«, fragte ich.
    Grant schwieg eine lange Zeit. Eine weitere Wurzel lockerte sich, er riss die ganze Pflanze aus und wickelte sich einen langen, trockenen Strang Gras um den kräftigen Zeigefinger. »Eigentlich hätte ich allen Grund dazu«, erwiderte er.
    Wieder war er lange still und ließ den Blick über seinen Besitz schweifen. »Seit ich Hazel vorgefunden habe, habe ich meinen Wutanfall hundertmal eingeübt. Du musst mich anhören.«
    »Das weiß ich«, entgegnete ich. »Sprich es aus.« Ich betrachtete Grant, aber er konnte mich nicht ansehen. Er würde nicht die Worte benutzen, die er sich zurechtgelegt hatte. Obwohl er wirklich allen Grund dazu hatte, war er nicht wütend und wollte mir nicht weh tun. Das passte einfach nicht zu ihm.
    Nach einer Weile schüttelte Grant den Kopf und stieß Luft aus. »Du hast getan, was du tun musstest«, sagte er. »Und ich habe getan, was ich tun musste.«
    Also hatte ich richtig vermutet. Meine Tochter wohnte im Weinberg. Grant hatte sie zu Elizabeth gebracht.
    »Abendessen?«, fragte Grant unvermittelt und drehte sich zu mir um.
    »Hast du etwas gekocht?«, meinte ich.
    Er nickte. Ich stand auf.
    Ich steuerte auf den Wasserturm zu, aber Grant nahm meine Hand und führte mich zur Veranda des Haupthauses. Ich ließ ihn gewähren und bemerkte erst jetzt, dass das Haus frisch gestrichen war. Auch die zerbrochenen Fenster waren ersetzt worden.
    Im Esszimmer war der Tisch gedeckt. Das polierte Holz der langen Tischplatte lag bis auf zwei Platzdeckchen an einem Ende frei. Gefaltete Stoffservietten, funkelndes Silber und dünne weiße Porzellanteller mit einem Muster aus nicht zu erkennenden blauen Blumen am Rand. Ich setzte mich.
    Grant schenkte aus

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