Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
und fuhr davon.
Am folgenden Samstag war ich schon kurz nach Mitternacht am Flora. Ich hatte in meinem Garten, den Rücken an einen Baum gelehnt, Wache gehalten, war dabei eingeschlafen und von nahendem Gelächter aufgeschreckt worden. Diesmal war es eine Horde betrunkener junger Männer. Der, der mir am nächsten war, ein zu groß gewordener Junge, dem das Haar bis unter das Kinn reichte, grinste mir zu, als wären wir Liebende, die sich an einem verabredeten Ort trafen. Ich wich seinem Blick aus, ging rasch zu einer Straßenlaterne und dann den Hügel hinunter zum Blumenladen.
Während ich wartete, benutzte ich Deo und Haargel, lief auf und ab und zwang mich, wach zu bleiben. Als Renatas Laster auftauchte, hatte ich mein Äußeres schon zweimal in den Außenspiegeln geparkter Autos überprüft und dreimal meine Kleider neu geordnet. Trotzdem wusste ich, dass ich allmählich anfing, wie eine Obdachlose auszusehen und zu riechen.
Renata stoppte den Wagen, entriegelte die Beifahrertür und signalisierte mir einzusteigen.
Ich setzte mich so weit wie möglich von ihr weg und knallte mir daher beim Zuziehen die Tür gegen die magere Hüfte.
»Guten Morgen«, sagte Renata. »Sie sind pünktlich.« Sie wendete und fuhr auf der menschenleeren Straße den Weg zurück, den sie gekommen war.
»Zu früh, um mir einen guten Morgen zu wünschen?«, fragte sie dann. Ich nickte, rieb mir die Augen und tat, als wäre ich gerade erst aufgewacht. Schweigend umrundeten wir einen Kreisverkehr. Renata verpasste die richtige Ausfahrt und musste ihn ein zweites Mal umfahren. »Offenbar ist es für mich auch ein bisschen früh.«
Sie nahm verschiedene Einbahnstraßen südlich der Market Street und bog schließlich in einen überfüllten Parkplatz ein.
»Bleiben Sie immer in meiner Nähe«, meinte sie, stieg aus und reichte mir einen Stapel leerer Eimer. »Da drinnen ist die Hölle los, und ich habe nicht die Zeit, auf Sie aufzupassen. Um zwei habe ich eine Hochzeit. Die Blumen müssen um zehn geliefert werden. Zum Glück sind es nur Sonnenblumen. Das Arrangieren dürfte also nicht lange dauern.«
»Sonnenblumen?«, fragte ich mich verwundert.
Trügerische Reichtümer
. Das wären keine Blumen für meine Hochzeit, dachte ich und verdrehte dann die Augen, weil ich die Wörter
meine Hochzeit
so absurd fand.
»Ich weiß, die Saison für sie ist vorbei«, sagte Renata. »Aber auf dem Blumenmarkt bekommt man, was man will, egal in welcher Jahreszeit. Und wenn die Paare mir das Geld nachwerfen, beklage ich mich nicht.« Sie drängte sich durch den Eingang, wo es hoch herging. Ich folgte ihr auf den Fersen und zuckte jedes Mal zusammen, wenn ein Eimer, ein Ellbogen oder eine Schulter meinen Körper streifte.
Das Innere des Blumenmarktes erinnerte an eine Höhle – hoch, fensterlos, die Decke aus Metall, der Boden betoniert. Der Anblick des unnatürlichen Blumenmeers, so gänzlich ohne Erde und Licht, beunruhigte mich. Buden quollen von Blumen der Saison über. Alles war vorhanden, was auch in meinem Garten wuchs, allerdings geschnitten und in Sträußen zur Schau gestellt. Andere Händler hatten tropische Blumen im Sortiment: Orchideen, Hibiskus und exotische Pflanzen, deren Namen ich nicht kannte und die aus Hunderte von Meilen entfernten Gewächshäusern stammten. Im Vorbeihasten pflückte ich eine Passionsblume ab und steckte sie in mein Taillenbündchen.
Renata blätterte die Sonnenblumen durch wie die Seiten eines Buches. Sie verhandelte über Preise, ging ein paar Schritte und kehrte wieder zurück. Ich fragte mich, ob sie in Amerika geboren oder in einem Land aufgewachsen war, wo das Feilschen zum Leben dazugehörte. Sie hatte einen leichten Akzent, den ich nicht einordnen konnte. Andere Kunden erschienen, zückten Banknotenbündel oder Kreditkarten und verabschiedeten sich, die Eimer voller Blumen. Renata debattierte weiter. Offenbar waren die Händler an sie gewöhnt, denn sie widersprachen nur halbherzig. Sie schienen zu wissen, dass sie letztlich gewinnen würde, was auch tatsächlich geschah. Nachdem sie Bündel orangefarbener Sonnenblumen mit einem halben Meter langen Stengeln in meine Eimer gestopft hatte, eilte sie zum nächsten Stand.
Als ich Renata einholte, hielt sie Dutzende hängender Callalilien mit fest zusammengerollten rosa- und orangefarbenen Blütenblättern in der Hand. Das Wasser, das aus den Stengeln tropfte, durchweichte die Ärmel ihrer dünnen Baumwollbluse. Als ich näher kam, warf sie mir die
Weitere Kostenlose Bücher