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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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beobachtete, auch wenn ich ihre Umrisse nicht hinter der Scheibe erkennen konnte. Die Hintertür blieb verschlossen. Zitternd sah ich zu, wie die Sonne unterging. Ich hatte noch zehn Minuten, nicht mehr, dann würde ich den Löffel bei Finsternis suchen müssen.
    Mit dem Ausgesperrtwerden hatte ich Erfahrung. Das erste Mal war ich fünf Jahre alt gewesen, mein aufgedunsener Bauch leer in einem Haus, in dem es zu viele Kinder und zu viele Bierflaschen gab. Auf dem Küchenboden sitzend, schaute ich zu, wie eine winzige weiße Chihuahuahündin ihr Abendessen aus einem Keramikschälchen verspeiste. Getrieben von Neid, rutschte ich näher heran. Ich hatte nicht vor, dem Hund das Futter wegzuessen, doch als mein Pflegevater bemerkte, dass mein Gesicht nur wenige Zentimeter über dem Napf schwebte, packte er mich am Rollkragenpullover und warf mich hinaus.
Wer sich verhält wie ein Tier, wird auch so behandelt,
waren seine Worte. Den Körper an die Glastür gepresst, sog ich die Wärme des Hauses in mich auf und beobachtete, wie die Familie sich bettfertig machte. Nie hätte ich geglaubt, dass sie mich die ganze Nacht im Freien verbringen lassen würden. Aber sie taten es. Ich zitterte vor Kälte und Angst und hatte dauernd das Bild vor Augen, wie die kleine Hündin bebte, bis ihre dreieckigen Ohren vibrierten, wenn sie sich fürchtete. Meine Pflegemutter schlich sich zwar mitten in der Nacht nach unten und warf eine Decke durch ein hoch gelegenes Küchenfenster, doch sie öffnete die Tür erst am nächsten Morgen.
    Ich saß auf Elizabeths Hintertreppe, vertilgte die Nudeln und die Tomaten aus meinen Hosentaschen und überlegte, ob ich den Löffel suchen sollte. Es war durchaus möglich, dass Elizabeth mich trotzdem zwingen würde, draußen zu schlafen, selbst wenn ich ihn fand und ihr zurückgab. Gehorsam war noch nie ein Garant dafür gewesen, dass ein Versprechen auch gehalten wurde. Allerdings hatte ich auf dem Weg nach unten einen Blick in mein Zimmer geworfen, das um einiges einladender wirkte als die splittrige Holztreppe. Also beschloss ich, es zu versuchen.
    Langsam schlenderte ich durch den Garten bis zu der Stelle, wo ich den Löffel weggeworfen hatte. Ich kniete mich unter den Mandelbaum und tastete mit den Händen. Dornen bohrten sich in meine Finger, als ich ins dichte Gebüsch griff. Ich teilte hohe Halme und zupfte Blütenblätter von dichten Sträuchern ab. Ich riss Blätter ab und brach Zweige. Der Löffel blieb verschollen.
    »Elizabeth!«, rief ich mit zunehmender Verzweiflung. Das Haus blieb still.
    Inzwischen wurde die Dunkelheit immer bedrückender. Der Weinberg schien sich in alle Richtungen zu erstrecken wie ein unentrinnbares Meer, so dass ich plötzlich große Angst bekam. Mit beiden Händen umfasste ich den Stamm eines kräftigen Busches, dessen Dornen mir die weichen Handflächen aufrissen, und zog, so fest ich konnte. Die Wurzeln der Pflanze lösten sich aus der Erde. Ich entwurzelte alles, was ich in die Finger bekam, bis der Boden kahl war. In der aufgewühlten Erde lag der einsame Löffel und funkelte im Mondlicht.
    Nachdem ich mir die blutigen Hände an der Hose abgewischt hatte, griff ich danach und rannte zum Haus. Immer wieder stolperte und stürzte ich und rappelte mich auf, ohne meinen Schatz loszulassen. Schließlich lief ich die Treppe hinauf und klopfte mit dem schweren Metalllöffel heftig an die Holztür. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, und Elizabeth stand vor mir.
    Einen Moment sahen wir einander schweigend an – zwei weit aufgerissene, starre Augenpaare –, dann schleuderte ich den Löffel mit aller Kraft, die ich in meinem mageren Arm hatte, ins Haus. Ich zielte auf das Fenster über der Spüle. Der Löffel flog nur wenige Zentimeter an Elizabeths Ohr vorbei, beschrieb einen hohen Bogen in Richtung Decke, prallte vom Fenster ab und landete klappernd im Spülbecken aus Porzellan. Eine der kleinen blauen Flaschen an der Kante des Fensterbretts geriet ins Schwanken. Sie fiel und zerbrach.
    »Hier haben Sie Ihren Löffel«, rief ich.
    Elizabeth schnappte erschrocken nach Luft und stürzte sich auf mich. Ihre Finger bohrten sich unten in meinen Brustkorb, als sie mich zur Spüle schleppte und mich beinahe hineinwarf. Meine Hüftknochen wurden gegen die geflieste Arbeitsfläche gepresst, und mein Gesicht schwebte so dicht über den Scherben, dass meine Welt einen Moment blau wurde.
    »Die«, sagte Elizabeth und schob mein Gesicht noch weiter zu den Glassplittern hinunter,

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