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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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»hat meiner Mutter gehört.« Obwohl sie mich völlig ruhig hielt, spürte ich die Wut, die ihre Fingerspitzen erfüllte und drohte, mich in die Scherben zu drücken.
    Mit einer ruckartigen Bewegung zog sie mich aus der Spüle, setzte mich ab und ließ mich los, ehe meine Füße den Boden berührten. Ich fiel rückwärts zu Boden. Sie stand über mir, und ich wartete darauf, dass ihre Hand auf mein Gesicht heruntersauste. Nur ein einziger Schlag war nötig. Meredith würde wiederkommen, bevor die Spuren verblasst waren, und dann würde endlich Schluss mit diesem letzten Experiment sein. Man würde mich für nicht vermittelbar erklären. Und Meredith konnte aufhören, eine Familie für mich zu suchen. Ich war bereit – mehr als bereit.
    Aber Elizabeth ließ die Hand sinken, richtete sich auf und trat einen Schritt zurück.
    »Meine Mutter«, verkündete sie, »hätte dich nicht gemocht.« Sie stupste mich mit der Zehe an, bis ich aufstand. »Und jetzt geh nach oben und ins Bett.«
    Also, dachte ich enttäuscht, ist es doch noch nicht vorbei. Die niederdrückende und überwältigende Furcht, die Besitz von meinem Körper ergriff, konnte man mit Händen greifen. Es
würde
enden. Da ich auch nicht den Hauch einer Möglichkeit sah, dass mein Aufenthalt bei Elizabeth mehr als nur von kurzer Dauer sein würde, wollte ich sofort einen Schlussstrich ziehen, ohne eine einzige Nacht in ihrem Haus verbringen zu müssen. Deshalb machte ich mit trotzig gerecktem Kinn einen Schritt auf sie zu, in der Hoffnung, dass sie die Beherrschung verlieren würde, wenn ich ihr zu nah kam.
    Aber der Augenblick war verstrichen. Elizabeth schaute ruhig atmend über meinen Kopf hinweg.
    Mit schweren Schritten wandte ich mich ab. Ich nahm mir eine Scheibe Schinken vom Tisch und stieg die Treppe hinauf. Die Tür meines Zimmers stand offen. Eine Weile verharrte ich auf der Schwelle und betrachtete alles, was vorübergehend mir gehören würde: die Möbel aus dunklem Holz, der runde rosafarbene Flickenteppich und die Schreibtischlampe, die einen Schirm aus perlmuttfarbenem Glas hatte. Alles sah neu aus: die aufgeplusterte Daunendecke mit Lochstickerei, die dazu passenden Vorhänge, die Kleider, die in ordentlichen Reihen im Wandschrank hingen oder in gefalteten Stapeln sämtliche Schubladen der Kommode füllten. Ich kroch ins Bett und knabberte an dem Schinken, der salzig und dort, wo meine blutigen Hände ihn berührt hatten, metallisch schmeckte. Zwischen den einzelnen Bissen hielt ich inne, um zu lauschen.
    Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich bis jetzt in zweiunddreißig Häusern gelebt, die alle eines gemeinsam hatten: Lärm. Busse, quietschende Bremsen, das Rattern vorbeifahrender Güterzüge. Drinnen: gegeneinander anplärrende Fernseher, das Piepsen von Mikrowellen und Flaschenwärmern, das Läuten der Türglocke, Geschimpfe, das Knacken von Riegeln. Dazu die Geräusche der anderen Kinder: Babygeschrei, Geschwister, die sich weinend gegen eine Trennung wehrten, das Kreischen unter einer zu kalten Dusche und das Wimmern einer Zimmergenossin, die einen Alptraum hatte. Doch in Elizabeths Haus war alles anders. Wie der Weinberg, der sich bei Dämmerung zur Ruhe legte, war es auch im Inneren des Hauses still. Nur ein leises, hohes Surren drang zum offenen Fenster herein. Es ähnelte dem Raunen von Stromleitungen, auch wenn ich hier auf dem Land von einer natürlichen Ursache ausging. Ein Wasserfall vielleicht oder ein Bienenschwarm.
    Schließlich hörte ich Elizabeth auf der Treppe. Ich zog mir die Decke über Kopf und Ohren, um ihre Schritte nicht wahrnehmen zu müssen. Zu meiner Überraschung spürte ich, wie sie sich auf meiner Bettkante niederließ. Ich hob die Decke ein Stück von meinen Ohren, allerdings ohne mein Gesicht zu zeigen.
    »Meine Mutter hat
mich
auch nicht gemocht«, flüsterte Elizabeth. Ihr Tonfall war sanft und entschuldigend. Ich hatte große Lust, unter der Decke hervorzuspähen; die Stimme, die durch die Daunen drang, war so anders als die der Frau, die mich gegen die Spüle gedrückt hatte, dass ich sie im ersten Moment nicht für die von Elizabeth hielt.
    »Also haben wir wenigstens etwas gemeinsam.« Bei diesen Worten ruhte ihre Hand auf meinem Rücken. Ich rutschte weg und drängte mich an die Wand neben dem Bett. Mein Gesicht wurde in die Schinkenscheibe gepresst. Elizabeth redete weiter und erzählte mir von der Geburt ihrer älteren Schwester Catherine und den darauffolgenden sieben von Totgeburten

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