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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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die anderen Kinder im Haus, sie sollten sich beim Essen beeilen und ihre an Halloween ergatterten Süßigkeiten tief unter dem Kopfkissen verstecken.
    »Und jetzt komm mit. Wahrscheinlich wartet sie schon am Tor.«
    Elizabeth führte mich durch den Garten zu dem niedrigen weißen Lattenzaun am anderen Ende, wo Perla bereits stand. Obwohl sie aus dieser geringen Entfernung sicher jedes Wort gehört hatte, wirkte sie nicht verärgert, sondern eher voller Hoffnung. Sie war nur wenige Zentimeter größer als ich und hatte einen weichen, runden Körper. Ihr T-Shirt war zu eng und zu kurz. Limettengrüner Stoff spannte sich über ihrem Bauch und endete oberhalb des Taillenbündchens ihrer Hose. Tiefrote Striemen verliefen rund um ihre Arme, wo die Gummibündchen ihrer Puffärmel gesessen hatten, bevor sie ihr in die Achselhöhlen gerutscht waren. Sie zerrte sie hervor und zog die Ärmel nacheinander hinunter.
    »Guten Morgen«, sagte Elizabeth. »Das ist meine Tochter Victoria. Victoria, das ist Perla.« Als ich das Wort
Tochter
hörte, bekam ich wieder Magenschmerzen. Ich wirbelte Elizabeth eine Staubwolke entgegen, bis sie mir mit dem rechten Schuh auf beide Füße trat und ihre Finger in mein Genick krallte. Ihre Berührung brannte mir auf der Haut.
    »Hallo, Victoria«, sagte Perla schüchtern. Sie nahm ihren dicken schwarzen Haarzopf von der Schulter und kaute an dem bereits feuchten Ende herum.
    »Gut«, stellte Elizabeth fest, als hätten Perlas ruhige Worte und mein hartnäckiges Schweigen etwas besiegelt. »Ich gehe jetzt rein und lege mich hin. Victoria, du bleibst hier draußen und spielst mit Perla, bis ich dich rufe.«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie ins Haus. Perla und ich standen allein da und starrten vor uns hin. Nach einer Weile streckte Perla zögernd die Hand aus und berührte mit einem pummeligen Finger die Spitzen meiner verbundenen Hände. »Was ist denn mit dir passiert?«
    Von dem plötzlichen verzweifelten Bedürfnis ergriffen, meine Hände zu benutzen, zerrte ich mit den Zähnen an der Gaze. »Mach den Verband ab«, forderte ich sie auf und hielt ihr die Hände hin.
    Perla zupfte an den Rändern des Klebebands, und ich schüttelte den Stoff weg. Die Haut darunter war bleich und schrumpelig, die Krusten hatten sich in kleine, trockene Kreise verwandelt.
    »Ich war in ihrem Garten«, erwiderte ich. Ich kratzte mit dem Fingernagel an einer Kruste. Sie löste sich mühelos und schwebte zu Boden.
    »Fängst du morgen mit der Schule an?«, fragte Perla.
    Ich antwortete nicht. Elizabeth dachte, dass ich in die Schule gehen würde. Allerdings dachte sie auch, dass ich ihre Tochter sein würde und dass sie mich zwingen konnte, eine Freundin zu haben. Doch sie hatte sich in all diesen Dingen schwer geirrt. Als ich auf den Gartenschuppen zusteuerte, hörte ich hinter mir Perlas schwere Schritte. Ich wusste nicht, was ich eigentlich vorhatte, aber plötzlich wollte ich Elizabeth klarmachen, wie sehr sie sich in mir täuschte. Ich schnappte mir ein Messer und eine Schere von einem Regal vor dem Schuppen und schlich am Rand des Gartens entlang.
    Auf der anderen Seite des Mandelbaums folgte ich einer Reihe grauer und grüner Sukkulenten, bis sie im Kies endete. Hier, wo die staubige unbefestigte Straße mit dem üppig grünen Garten zusammentraf, stand ein gewaltiger, verästelter Kaktus. Er war größer als Merediths Dienstwagen und hatte einen braunen, schuppigen Stamm, der aussah wie wieder und wieder zerkratzt von den eigenen Stacheln. Die Äste erinnerten an eine Ansammlung flacher Hände, von denen eine – rechts, links, rechts und dann wieder links – aus der anderen herauswuchs, so dass jede im Gleichgewicht blieb und kerzengerade hoch in den Himmel ragte.
    Ich wusste, was ich tun würde.
    »Nopales«, meinte Perla und zeigte auf den Kaktus. »Feigenkaktus.«
    »Was?«
    »Das ist ein Feigenkaktus. Siehst du die Früchte ganz oben? In Mexiko kann man sie auf dem Markt kaufen. Sie schmecken gut, solange man sie ordentlich schält.«
    »Abschneiden«, befahl ich.
    Perla rührte sich nicht. »Was? Das ganze Ding?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nur den Ast mit den Früchten. Ich will ihn Elizabeth geben. Aber du musst es machen, sonst tue ich mir wieder an den Händen weh.« Perla bewegte sich noch immer nicht, sondern blickte den Kaktus hinauf, der zweimal so groß war wie sie. Flammend rote Früchte wuchsen wie geschwollene Finger aus jeder Handfläche. Ich hielt Perla das Messer so hin, dass

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