Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
ich die Nummer der San Francisco Library wählte, wurde eine lange Tonbandnachricht abgespielt. Ich hörte sie zweimal ab und notierte mir Öffnungszeiten und Adressen auf den Handrücken. Die Hauptfiliale schloss sonntags um fünf, genau wie das Flora. Also würde ich bis Montag warten müssen. Dann würde ich, abhängig von der Bedeutung, die ich entschlüsselte, entscheiden, ob ich mich auf ein paar Donuts mit ihm traf.
Kurz vor Ladenschluss, ich hatte gerade die Blumen aus dem Schaufenster in die Kühlkammer geräumt, öffnete sich die Tür. Eine einsame Frau stand da und schaute sich verdattert im leeren Laden um.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich. Ich war ungeduldig und wollte endlich gehen.
»Sind Sie Victoria?«, fragte sie.
Ich nickte.
»Earl schickt mich. Ich soll Ihnen ausrichten, er brauche wieder das Gleiche und mehr davon.« Sie gab mir dreißig Dollar. »Der Rest ist für Sie.«
Ich legte das Geld auf die Theke und ging in die Kühlkammer, wobei ich mich fragte, ob wir noch genügend Chrysanthemen hatten. Beim Anblick des gewaltigen Büschels, meiner Ausbeute von diesem Vormittag, lachte ich auf. Das restliche Immergrün stand vergessen auf dem Boden, wo ich es eine Woche zuvor hingestellt hatte. Da Renata die Pflanze nicht gegossen hatte, war sie trocken, aber noch nicht eingegangen.
»Warum ist Earl nicht selbst gekommen?«, fragte ich, während ich anfing, den Strauß zu binden.
Der Blick der Frau huschte zwischen meinen arbeitenden Händen und dem Fenster hin und her. Sie hatte die Lebenskraft eines Vogels im Käfig.
»Er wollte, dass ich Sie kennenlerne.«
Ich schwieg und hob auch nicht den Kopf. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie an den Ansätzen ihres rötlich braunen Haars zupfte. Vermutlich sollte die Farbe graue Strähnen überdecken.
»Er dachte, Sie könnten vielleicht einen Strauß für mich zusammenstellen. Etwas Besonderes.«
»Für welchen Anlass?«, erkundigte ich mich.
Sie hielt inne und schaute wieder aus dem Fenster. »Ich bin alleinstehend und möchte, dass sich das ändert.«
Ich blickte mich um. Mein Erfolg bei Earl hatte mein Selbstbewusstsein gestärkt. Sie brauchte rote Rosen und Flieder, beschloss ich, was ich jedoch beides nicht gekauft hatte. Für gewöhnlich ließ ich die Finger von diesen Blumen. »Nächsten Samstag«, meinte ich. »Könnten Sie wiederkommen?«
Sie nickte. »Der Himmel weiß, dass ich gelernt habe zu warten«, erwiderte sie und verdrehte die Augen. Schweigend beobachtete sie, wie meine Finger rasch mit den Chrysanthemen hantierten. Als sie zehn Minuten später ging, wirkte sie leichter und lief die Straße entlang zu Earls Haus wie eine viel jüngere Frau.
Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Bus zur Hauptfiliale der Bibliothek und setzte mich auf die Treppe, bis sie öffnete. Ich brauchte nicht lange, um das Gesuchte zu finden. Die Bücher über die Sprache der Blumen standen in der obersten Etage, eingezwängt zwischen viktorianischer Lyrik und einer umfangreichen Auswahl an Gartenbüchern. Es waren mehr, als ich erwartet hatte. Die Palette reichte von alten, mürben Bänden wie dem, den ich bei mir hatte, bis hin zu illustrierten Taschenbüchern, die von antiken Couchtischen zu stammen schienen. All diese Bücher hatten eines gemeinsam – sie sahen aus, als hätte sie seit Jahren niemand mehr angerührt. Elizabeth hatte mir erzählt, die Sprache der Blumen sei früher Allgemeingut gewesen. Es hatte mich schon immer gewundert, dass sie in der Versenkung verschwunden war. Ich stapelte so viele Bücher auf meine zitternden Arme, wie ich tragen konnte.
Am nächstbesten Tisch schlug ich einen in Leder gebundenen Folianten auf, dessen einst vergoldeter Titel zu Goldstaub verblasst war. Die Leihkarte, die darin steckte, war vor meiner Geburt zum letzten Mal abgestempelt worden. Das Buch enthielt die vollständige Geschichte der Sprache der Blumen. Am Anfang war das ursprüngliche Wörterbuch der Blumensprache abgedruckt, das im neunzehnten Jahrhundert in Frankreich erschienen war. Es führte auch eine lange Liste von Mitgliedern des Königshauses auf, die einander in der Sprache der Blumen den Hof gemacht hatten, und schilderte in allen Einzelheiten die ausgetauschten Sträuße. Ich überflog das kurze Blumenwörterbuch am Ende des Bandes. Silberpappeln wurden nicht erwähnt.
Ich blätterte ein weiteres halbes Dutzend Bücher durch, und meine Angst wuchs mit jedem Band. Obwohl ich mich vor der Botschaft des fremden Mannes
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