Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
fürchtete, machte es mir noch größere Angst, dass ich die Antwort vielleicht nicht finden und deshalb nie erfahren würde, was er mir hatte sagen wollen. Nach einer etwa zwanzigminütigen Suche stieß ich endlich auf die gewünschte Information. Es war nur ein einziges Wort zwischen Löwenmaul und Pflaume:
Zeit
. Erleichtet, aber auch verwirrt, atmete ich auf.
Ich schloss das Buch und lehnte die Stirn an den kühlen Einband.
Zeit
als Reaktion auf
Anmaßung
war zweideutiger, als ich erhofft hatte. Die Zeit wird es zeigen? Gib mir Zeit? Seine Antwort war unklar. Er war offenbar nicht bei Elizabeth in die Lehre gegangen. Ich schlug das nächste Buch und dann noch eines auf, in der Hoffnung, eine ausführlichere Definition der Silberpappel zu entdecken. Doch eine Durchsicht der ganzen Sammlung förderte keine weiteren Ergebnisse zutage. Das wunderte mich nicht. Immerhin war die Pappel ein Baum, eine Pflanze also, die sich aber nicht unbedingt zum Übermitteln romantischer Botschaften eignete. Man drückte seine Sehnsüchte nicht dadurch aus, dass man jemandem ein Zweiglein oder einen langen Rindenstreifen überreichte.
Ich wollte die Bücher schon wieder zurückstellen, als mir ein kleines Taschenbuch ins Auge stach. Auf dem Einband waren Zeichnungen von Blumen in einem kleinen Gitterrost abgebildet. Unter jeder Zeichnung stand in winziger Schrift die Bedeutung. Die unterste Reihe zeigte detailgetreue Zeichnungen von Rosen in allen Farben.
Eifersucht,
lautete der Schriftzug unter der verblassten gelben Rose.
Bei jeder anderen Blume wäre mir der Widerspruch nicht aufgefallen. Doch ich hatte die Trauer nie vergessen, die sich in Elizabeths Gesicht gezeigt hatte, wenn sie auf ihre gelben Rosenbüsche wies. Auch nicht die Sorgfalt, mit der sie im Frühjahr alle jungen Knospen abschnitt und sie in einem Haufen am Gartenzaun verwelken ließ. Wenn man
Untreue
durch
Eifersucht
ersetzte, veränderte sich die Bedeutung vollständig: Das eine war eine Handlung, das andere nur ein Gefühl. Ich öffnete das kleine Buch, überflog die Seiten, legte es weg und griff nach einem anderen.
Stunden vergingen, während ich Hunderte von Seiten neuer Informationen in mich aufsog. Wie erstarrt saß ich da. Nur die Seiten der Bücher bewegten sich. Ich schlug eine Blume nach der anderen nach und verglich alles, was ich mir eingeprägt hatte, mit den Definitionen in den Wörterbüchern auf dem Tisch.
Schließlich hatte ich verstanden: Elizabeth hatte sich in der Sprache der Blumen ebenso geirrt wie in mir.
13.
E lizabeth saß auf der Vortreppe und badete ihren Fuß in einer Schüssel mit Wasser. Von der Bushaltestelle aus, wo ich stand, sah sie klein aus. Ihre nackten Knöchel waren blass.
Als ich näher kam, hob sie den Kopf. Ich wurde von Angst ergriffen – sie war noch nicht fertig mit mir, so viel war klar. An diesem Morgen hatten mir Elizabeths Aufschrei und das laute Poltern eines Holzabsatzes auf dem Linoleumboden verraten, dass sie die Kaktusstacheln gefunden hatte. Ich stand auf, zog mich an und eilte nach unten. Aber als ich in die Küche kam, saß Elizabeth schon am Tisch und verspeiste in aller Seelenruhe ihren Haferbrei. Bei meinem Eintreten schaute sie nicht auf und sagte kein Wort, als ich mich an den Tisch setzte.
Dass sie nicht reagierte, brachte mich in Rage.
Was hast du mit mir vor?,
schrie ich. Elizabeths Erwiderung zog mir den Boden unter den Füßen weg. Der Kaktus, entgegnete sie mit einem spöttischen Funkeln in den Augen, stehe für brennende Liebe. Obwohl ihre Schuhe vermutlich endgültig ruiniert seien, wisse sie die Geste zu schätzen. Ich schüttelte heftig den Kopf. Aber Elizabeth erinnerte mich an das, was sie mir im Garten erklärt hatte: Jede Pflanze habe nur eine einzige Bedeutung, um Missverständnisse auszuschließen. Ich griff nach meinem Tornister und ging zur Tür. Doch Elizabeth folgte mir und hielt mir einen Strauß an den Nacken.
Möchtest du meine Antwort nicht sehen?,
fragte sie. Ich wirbelte herum und betrachtete die winzigen violetten Blütenblätter.
Sonnenwende,
fügte sie hinzu.
Hingebungsvolle Zuneigung.
Da ich den Atem angehalten hatte, stieß ich den nächsten Satz mit einem zornigen Zischen hervor.
Kaktus heißt, dass ich dich hasse,
flüsterte ich und knallte ihr die Tür vor der Nase zu.
Nach einem langen Schultag war mein Zorn zu etwas verblasst, was an Bedauern erinnerte. Doch Elizabeth lächelte bei meinem Anblick so erfreut, als hätte sie meine Hassbekundung vor nur
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