Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
in den Pick-up werfen konnte, wenn es ihr in den Kram passte. Während ich hinter ihr her zum Wagen trottete, malte ich mir aus, was nun kommen würde: die Fahrt zum Jugendamt, das weißgestrichene Wartezimmer, Elizabeth, die sich aus dem Staub machte, bevor die diensthabende Sozialarbeiterin auch nur Zeit für die Aufnahmeformalitäten fand. Damit hatte ich Erfahrung. Ich ballte die Fäuste und starrte aus dem Fenster.
Doch auf unserem Weg die Auffahrt hinunter sagte Elizabeth etwas, das mich überraschte. »Wir fahren zu meiner Schwester«, verkündete sie. »Der Zwist dauert nun schon viel zu lange, meinst du nicht auch?«
Mein Körper erstarrte. Als Elizabeth mich, offenbar in Erwartung einer Antwort, anblickte, nickte ich steif. Allmählich begriff ich, was sie eigentlich gesagt hatte:
Sie würde mich behalten.
Mir traten die Tränen in die Augen. Die Wut, die ich noch am Morgen auf Elizabeth gehabt hatte, verrauchte und wurde im nächsten Moment von Erschrecken abgelöst. Elizabeths Beteuerungen, ich könnte sie durch nichts dazu bringen, mich zurückzugeben, hatte ich keinen Augenblick geglaubt. Aber nun saß ich hier. Gerade hatte man mich von der Schule nach Hause geschickt, worauf sicher ein Ausschluss vom Unterricht, wenn nicht gar ein Schulverweis folgen würde, und Elizabeth redete über ihre Schwester. Erleichterung und noch ein anderes, unbekanntes Gefühl – möglicherweise Erleichterung oder gar Freude – stiegen in mir auf. Ich presste die Lippen zusammen und unterdrückte ein Lächeln.
»Catherine wird nicht glauben, dass du den Busfahrer während der Fahrt auf den Kopf geschlagen hast«, sprach Elizabeth weiter. »Das heißt, sie wird es nicht glauben, weil ich es auch getan habe – genau das Gleiche! Ich denke, es war in der zweiten Klasse, bin aber nicht sicher. Jedenfalls fuhr er los und sah mich plötzlich im Rückspiegel finster an. Bevor ich wusste, wie mir geschah, war ich schon aufgesprungen.
Schau auf die Straße, du fettes Schwein!
, habe ich geschrien. Und er war wirklich fett, das kann ich dir sagen.«
Ich fing an zu lachen, und als ich erst einmal angefangen hatte, war es unmöglich, damit aufzuhören. Vornübergebeugt und die Stirn ans Armaturenbrett gepresst, stieß ich erstickte Lachsalven aus, die wie Schluchzer klangen. Ich schlug die Hände vors Gesicht. »Mein Busfahrer ist nicht dick«, keuchte ich, als ich wieder einen Ton herausbrachte. »Aber hässlich.«
Ich begann wieder zu lachen, doch Elizabeths Schweigen ließ mich verstummen.
»Denk bloß nicht, dass ich dein Verhalten gutheiße«, sagte sie. »Was du getan hast, war eindeutig nicht richtig. Allerdings habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht auf deine Wut geachtet und dich in diesem Zustand zur Schule geschickt habe. Ich hätte mich deutlicher ausdrücken müssen und dich nicht ausschließen dürfen.«
Elizabeth verstand mich.
Ich hob den Kopf vom Armaturenbrett und legte ihn in Elizabeths Schoß. Plötzlich fühlte ich mich so wenig allein wie noch nie zuvor in meinem ganzen Leben. Das Lenkrad nur ein kleines Stück von meiner Nase entfernt, schmiegte ich den Hinterkopf an Elizabeths Schoß. Falls sie von dieser plötzlichen Zuneigungsbekundung überrascht war, ließ sie sich nichts anmerken. Ihre Hand wanderte vom Schaltknüppel zu meinem Haaransatz, und sie streichelte meine Schläfe und meinen Nasenrücken.
»Hoffentlich ist sie zu Hause«, sagte sie. Ich wusste, dass sie wieder an Catherine dachte. Sie setzte den Blinker, wartete, bis der Gegenverkehr vorbei war, und bog dann von der Auffahrt in die Straße ein.
In den Wochen vor der Weinlese waren Elizabeths Gedanken ständig um ihre Schwester gekreist. Das erkannte ich an den Dutzenden von Anrufen und den Nachrichten, die sie auf Catherines Anrufbeantworter hinterließ. Die ersten ähnelten der, die ich auf der Veranda belauscht hatte: Erinnerungsfetzen, gefolgt von Beteuerungen, sie hätte ihr verziehen. In letzter Zeit jedoch hatten sich die Nachrichten geändert. Sie waren ausführlich und im Plauderton gehalten und manchmal so lang, dass der Anrufbeantworter sich abschaltete und Elizabeth noch einmal die Nummer wählen musste. Sie erzählte, schilderte unseren Alltag in allen Einzelheiten und beschrieb das ständige Verkosten der Trauben und das Reinigen der Behälter. Oft sprach sie beim Kochen über das Gericht, das sie gerade zubereitete, und verhedderte sich auf dem Weg zum Gewürzregal und wieder zurück in das lange
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