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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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meinte Grant. »Hmmm.«
    Ich wandte mich ab. »Du hast gefragt«, stellte ich fest.
    »Es ist schon merkwürdig, findest du nicht?«, fuhr er fort und betrachtete die Rosen um uns herum. Alle standen in voller Blüte, und keine von ihnen war gelb. »Du bist fasziniert von einer romantischen Sprache, einer Sprache, die erfunden wurde, damit Liebende sich miteinander verständigen können, und benutzt sie, um Feindseligkeit zu verbreiten.«
    »Warum blühen die Rosen alle?«, erkundigte ich mich, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. Für Rosen war es ziemlich spät im Jahr.
    »Meine Mutter hat mir beigebracht, sie in der zweiten Oktoberwoche gründlich zurückzustutzen. So würden wir zu Thanksgiving immer Rosen haben.«
    »Feierst du Thanksgiving?«, fragte ich mit einem Blick zum Haus. Das Fenster im spitzen Giebel war noch immer zerbrochen. Jemand hatte es mit Pressspan vernagelt.
    »Nein«, räumte er ein. »Meine Mutter hat es getan, als ich noch klein war. Das war, bevor sie den Großteil des Tages im Bett verbracht hat. Ich habe immer ihre Rosen zurechtgestutzt, wie sie es mir gezeigt hatte, in der Hoffnung, der Anblick aus ihrem Zimmerfenster könnte sie in die Küche locken. Einmal hat es geklappt, an dem Thanksgiving-Tag, bevor sie starb. Jetzt, nach ihrem Tod, tue ich es aus reiner Gewohnheit.«
    Ich überlegte, ob Thanksgiving schon vorbei war oder in der kommenden Woche stattfinden würde. Obwohl es in der Blumenbranche schwierig war, nicht auf Feiertage zu achten, kümmerte ich mich kaum darum. Allerdings dachte ich, dass der Tag noch bevorstand. Als ich aufschaute, betrachtete Grant mich, als erwarte er eine Antwort. »Was ist?«, wollte ich wissen.
    »Kennst du deine leibliche Mutter?«
    Ich schüttelte den Kopf. Als er noch etwas fragen wollte, fiel ich ihm ins Wort. »Wirklich. Vergeude deine Zeit nicht damit, nachzubohren. Ich weiß genauso wenig über sie wie du.« Ich ging los, kniete mich auf den Boden und hielt mir den Sucher der Kamera ans Auge. Dann schoss ich ein verschwommenes Foto von knorrigem altem Holz und dem Ansatz tiefer Wurzeln.
    »Sie ist mechanisch. Weißt du, wie man sie benutzt?« Ich verneinte. Er zeigte mir die verschiedenen Knöpfe und Anzeigen und benutzte dabei Fachausdrücke aus der Fotografie, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Ich achtete nur auf den Abstand zwischen seinen Fingern und der Kamera um meinen Hals. Wenn er meiner Brust zu nah kam, wich ich einen Schritt zurück.
    »Versuch es«, forderte Grant mich auf, als er am Ende seiner Ausführungen angelangt war. Wieder hielt ich die Kamera hoch und drehte einen Regler nach links. Eine offene rosafarbene Blüte verwandelte sich von einer verschwommenen in eine unkenntliche Masse. »In die andere Richtung«, sagte Grant. Verwirrt von seiner Stimme, die zu dicht an meinem Ohr war, drehte ich den Regler weiter nach links.
    Seine Hand schloss sich um meine, und gemeinsam bewegten wir den Regler nach rechts. Seine Hände waren weich, und die Berührung brannte nicht. »Ja«, sagte er. »So ist es richtig.« Er legte meine andere Hand oben auf die Kamera und drückte meinen Zeigefinger auf einen runden Metallknopf. Mein Herz stockte und fing wieder an zu schlagen. Die Blende öffnete und schloss sich mit einem Klicken.
    Als Grant die Hände wegnahm, ließ ich die Kamera nicht sinken. Ich traute meinem Gesichtsausdruck nicht und wusste nicht, ob er Freude oder Hass in meinen Augen lesen und Angst oder Glück auf meinen hochroten Wangen erkennen würde. Ich konnte nicht sagen, wie ich mich fühlte. Nur atemlos.
    »Spul den Film vor und mach noch ein Foto«, meinte Grant. Ich rührte mich nicht. »Soll ich es dir zeigen?«
    Ich wich zurück. »Nein«, erwiderte ich. »Es ist genug.«
    »Zu viele Informationen für einen Tag?«, erkundigte sich Grant.
    »Ja«, antwortete ich, nahm die Kamera ab und gab sie ihm zurück. »Viel zu viele.«
    Wir kehrten zum Haus zurück. Grant bat mich nicht herein. Stattdessen steuerte er direkt auf seinen Pick-up zu, öffnete die Beifahrertür und hielt mir die Hand hin. Nach kurzem Zögern griff ich danach. Er half mir beim Einsteigen.
    Schweigend fuhren wir zurück in die Stadt. Es begann zu regnen, anfangs nur ein Nieseln, dann ein plötzlicher Wolkenbruch, der uns die Sicht raubte. Autofahrer stoppten am Straßenrand, um abzuwarten, bis das Unwetter nachließ. Doch es regnete immer heftiger. Da es der erste Regen in diesem Jahr war, öffnete sich die Erde der lange ersehnten Wasserzufuhr

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