Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
beide Handflächen an mein Gesicht hielt und mir in die Augen sah und wie seine Hände nach Erde rochen, obwohl er sie gerade erst gewaschen hatte. Aber ich durfte nicht zu ihm gehen. Er würde mir Versprechungen machen, und ich würde seine Worte wiederholen, weil ich an seinen Traum von einem gemeinsamen Leben glauben wollte. Doch mit der Zeit würden wir erkennen, dass meine Worte nur hohle Phrasen waren. Und dann würde ich scheitern. Das war das einzig mögliche Ergebnis.
Also schloss ich die Augen und zwang mich, vom Fenster zurückzuweichen. Meine Schultern sackten nach vorne, der Bauch fiel mir auf die geöffneten Schenkel.
Wenn ich gewusst hätte, wie, hätte ich in Grants Gebet eingestimmt. Ich hätte für ihn gebetet, für seine Güte, seine Treue und seine unerfüllbare Liebe. Ich hätte dafür gebetet, dass er aufgab, mich losließ und ein neues Leben anfing. Vielleicht hätte ich sogar um Verzeihung gebetet.
Doch ich wusste nicht, wie man betet.
Stattdessen verharrte ich in meiner Körperhaltung, zusammengekrümmt auf dem Wohnzimmerfußboden eines Fremden, und wartete darauf, dass Grant einen Schlussstrich zog, mich vergaß und nach Hause fuhr.
2.
S echs Monate«, sagte Elizabeth.
Ich blickte Merediths Auto nach. Nachdem sie uns zwei Monate lang wöchentlich besucht hatte, war sie endlich mit einem neuen Gerichtstermin einverstanden gewesen. In sechs Monaten.
Elizabeth belegte ein Sandwich mit einem zusätzlichen Stück Speck und schob es mir hin. Ich griff danach, biss hinein und nickte. Sie hatte mich zwar wider Erwarten nicht zurückgegeben, verhielt sich aber anders als vor der gescheiterten Adoption. Verunsichert und schuldbewusst.
»Die Zeit wird rasch vergehen«, fügte sie hinzu. »Wegen der Weinlese, der Feiertage und so.«
Wieder nickte ich, schluckte kräftig und wischte mir die Augen ab, um die Tränen zu unterdrücken. In der Zeit seit unserem verpassten Gerichtstermin hatte ich immer wieder Szenen aus dem vergangenen Jahr in Gedanken durchgespielt und überlegt, was ich wohl falsch gemacht hatte. Die Liste war lang: Ich hatte dem Kaktus einen Ast abgeschnitten, den Busfahrer auf den Kopf geschlagen und mehr als einmal meinem Hass Luft gemacht. Allerdings hatte Elizabeth mir diese gewalttätigen Ausbrüche offenbar verziehen. Sie schien sie sogar zu verstehen. Deshalb war ich zu dem Schluss gekommen, dass ihre plötzliche Wankelmütigkeit ihren Grund in meinem zunehmenden Anlehnungsbedürfnis hatte. Oder in meinen Tränen. Als ich spürte, dass meine Augen wieder feucht wurden, schloss ich sie und schlug die Hände vors Gesicht.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte Elizabeth leise. Diesen Satz hatte sie in den letzten Wochen Hunderte von Malen ausgesprochen, und ich glaubte ihr. Anscheinend bedauerte sie ihr Verhalten wirklich. Was ich ihr jedoch nicht glaubte, war, dass sie noch immer meine Mutter sein wollte. Ich war in der Lage, Mitleid von Liebe zu unterscheiden. Nach den von mir aufgeschnappten Gesprächsfetzen aus dem Wohnzimmer zu urteilen, hatte Meredith, was meine Zukunftsaussichten anging, kein Blatt vor den Mund genommen. Ich hatte Elizabeth, oder ich hatte niemanden. Deshalb kam ich zu dem Ergebnis, dass Elizabeth mich nur aus einem Pflichtgefühl heraus nicht zurückgeschickt hatte. Ich aß mein Sandwich auf und wischte mir die Hände an der Jeans ab.
»Wenn du fertig bist«, sagte Elizabeth, »warte am Traktor auf mich. Ich mache sauber und komme nach.«
Draußen lehnte ich mich an den großen Reifen und betrachtete die Weinreben. Es würde ein gutes Jahr werden. Elizabeth und ich hatten genau im richtigen Maß ausgedünnt und gedüngt; die Trauben waren prall und wurden allmählich süß. Den ganzen Herbst lang hatte ich neben Elizabeth im Weinberg gearbeitet, drei Spalten lange Aufsätze über die Jahreszeiten, die Bodenbeschaffenheit und den Weinbau geschrieben und Pflanzenführer und Pflanzenfamilien auswendig gelernt. Abends begleitete ich Elizabeth wie schon im letzten Jahr zu den Verkostungen.
Ich sah auf die Uhr. Wegen der Verkostungen hatten wir einen langen Abend vor uns, und ich brannte darauf, endlich anzufangen. Aber Elizabeth erschien nicht, weder nach fünf Minuten noch nach zehn. Also beschloss ich, wieder hineinzugehen. Ich würde ein Glas Milch trinken und Elizabeth zuschauen, während sie die Küche aufräumte.
Als ich die Veranda erreichte, hörte ich Elizabeths halb zornige, halb flehende Stimme. Sie telefonierte. Plötzlich wurde mir klar,
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