Die verborgene Stadt - Die Prophezeiung
abwarten, oder uns auf einen ernsthaften Krieg mit ungewissem Ausgang einlassen.«
»Zum Vollmond erreicht die magische Kraft des Boten ihren Höhepunkt«, räsonierte der Fürst. »Dann wird er zum entscheidenden Schlag gegen uns ausholen.«
»Und wozu er imstande ist, hat er uns ja soeben anschaulich vorgeführt«, ergänzte der Kommissar.
»Der Bote ist zum Äußersten entschlossen«, setzte der Fürst fort. »Für ihn gibt es nur Sieg oder Tod. Er ist gekommen, um die Welt zu beherrschen. Mit weniger wird er sich nicht zufriedengeben. Wir haben nur eine Chance gegen ihn, wenn wir uns mit allen Magiern der Verborgenen Stadt verbünden.«
»Und selbst das würde nicht genügen, gäbe es da nicht einen Umstand, der uns in die Karten spielt«, sagte Santiago geheimniskrämerisch.
»Und der wäre?«
»Der Bote hat keine klassische Ausbildung durchlaufen,
das macht seine magische Kraft weniger gefährlich. Mit anderen Worten: Wenn man eine Geige zu Hause hat, bedeutet das noch nicht, dass man auch darauf spielen kann. Der Bote verfügt über verheerende magische Kräfte und außergewöhnliche Fähigkeiten. Doch versteht er es auch, sie gezielt einzusetzen? Er hat zu viel Zeit in der Einsamkeit verbracht.«
»Wir verbringen auch viel Zeit in der Einsamkeit«, wandte ein Ratsherr ein.
»Aber im Unterschied zu Lubomir habt ihr mich«, konterte Santiago grinsend. »Ich setze eure Entscheidungen in die Tat um, und ihr müsst euch nicht mit den Intrigen und Kompromissen herumschlagen, die dazu erforderlich sind. Der Bote dagegen muss nicht nur gegen den Fürsten kämpfen, sondern auch seine Schergen dirigieren, ihnen Befehle erteilen und kontrollieren, ob sie auch ausgeführt werden. Ich glaube nicht, dass er die nötige Reife hat, um eine so komplexe Aufgabe zu bewältigen, und darin liegt unsere Chance. Wir müssen uns mit den anderen Herrscherhäusern verbünden.«
»Wir werden uns nicht untereinander bekriegen«, entschied der Fürst. »Denn die eigentliche Gefahr ist der Bote.«
»Aber wir wissen immer noch nicht, wo er sich versteckt hält«, warf einer der Ratsherren ein.
»Das ist das Problem des Kommissars.«
»Ich werde ihn finden«, versicherte Santiago selbstbewusst.
»Und wie?«, erkundigte sich der Ratsherr. »Bislang sind unsere Bemühungen ohne Erfolg geblieben.«
»Das Amulett wird mir helfen«, erläuterte der Kommissar. »Der Bote wird das Amulett jagen und ich den Boten.«
»Ist das nicht zu hoch gepokert?«, beharrte der Ratsherr. »Vielleicht sollten wir das Amulett in der Zitadelle verstecken?«
»Ich denke, der Kommissar weiß schon, was er zu tun hat«, beendete der Fürst den Disput. »Und noch etwas: Wir müssen den Tschuden zu verstehen geben, dass wir auf ihrer Seite stehen. Santiago, du wirst sie morgen darüber in Kenntnis setzen.«
»Ja, mein Gebieter«, sagte der Kommissar und verneigte sich.
»Und lass dich nicht mehr in weißen Anzügen bei mir blicken.«
»Er ist beige, mein Gebieter«, entgegnete Santiago mit einer neuerlichen, tiefen Verbeugung, unter der er ein breites Grinsen verbarg.
Moskau, Lenin-Prospekt
Dienstag, 27. Juli, 00:39 Uhr
»Leg einen Zahn zu, mein Freund.«
Artjom schaute auf den Tacho: hundertdreißig. Der Golf sauste bei grüner Welle über den halbleeren Lenin-Prospekt Richtung Autobahnring, doch Artjom hatte so seine Zweifel, ob das lange gutgehen würde. Einer derart dreisten Raserei schob die Verkehrspolizei im Normalfall schon nach kürzester Zeit einen Riegel vor.
»Mach dir keinen Kopf wegen der Polizei«, sagte der Passagier. »Die hat im Augenblick andere Sorgen. Drück auf die Tube.«
Artjom gab Gas.
Der Abend stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Lusja hatte Gäste eingeladen und das ausgerechnet an einem Montag, dem – aus Artjoms Sicht – denkbar ungeeignetsten Tag für ein geselliges Beisammensein. Fatalerweise erschien Lusjas beste Freundin Sinotschka nicht zu der Festivität, woran selbstverständlich Artjom schuld war, da er keine Zeit fand, die Dame und ihren neuen Kavalier persönlich abzuholen und zu seiner Freundin zu chauffieren. Den ganzen Abend lang sah sich Artjom Lusjas vorwurfsvollen Blicken ausgesetzt, und so überraschte es ihn nicht weiter, als er zehn Minuten vor Mitternacht dazu aufgefordert wurde, sich nach Hause zu begeben.
Richtig abenteuerlich wurde der Abend aber erst, als Artjom die Kreuzung Lenin-Prospekt/Krawtschenko-Straße erreichte. Hier gab es kein Durchkommen. Der
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