Die verborgene Wirklichkeit
Fortschritte der letzten hundert Jahre deutlich: Unsere Alltagserfahrung ist kein zuverlässiger Leitfaden für Expeditionen, die über den Bereich der alltäglichen Umstände hinausgehen. Da wir aber unter Extrembedingungen auf radikal neue physikalische Gesetzmäßigkeiten stoßen – die durch die Allgemeine Relativitätstheorie, die Quantenmechanik und, sofern sie sich als richtig erweisen sollte, die Stringtheorie beschrieben werden –, kann die Notwendigkeit radikal neuer Ideen längst nicht mehr überraschen. Eine Grundannahme der Wissenschaft lautet: Es gibt auf allen Größenskalen Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten; aber wie schon Newton selbst vorhersagte, besteht kein Anlass zu der Erwartung, dass wir die Gesetzmäßigkeiten, auf die wir direkt treffen, auch auf allen anderen Größenskalen wiederfinden.
Überraschend wäre es gewesen, wenn es keine Überraschungen gegeben hätte.
Das Gleiche gilt zweifellos im Hinblick auf zukünftige Offenbarungen der Physik. Eine einzelne Wissenschaftlergeneration kann niemals wissen, ob ihre Arbeit auf lange Sicht als Umweg beurteilt werden wird, als vorübergehende Modeerscheinung, als Zwischenschritt oder als aufschlussreiche neue Einsicht, die sich bewährt hat. Als Gegengewicht zu solchen Unsicherheiten dient einer der befriedigendsten Aspekte der Physik: die umfassende Stabilität. Neue Theorien machen ältere, an deren Stelle sie treten, nicht ungültig. Wie wir bereits erörtert haben, führen neue Theorien zwar vielleicht dazu, dass man sich an neue Perspektiven auf das Wesen der Wirklichkeit gewöhnen muss, verdammen aber frühere Entdeckungen nur höchst selten zur Bedeutungslosigkeit. Diese werden vielmehr eingebunden und erweitert. Deshalb ist die physikalische Erzählung von beeindruckender Widerspruchsfreiheit.
In diesem Buch haben wir eine Möglichkeit für die nächste wichtige Weiterentwicklung dieser Geschichte untersucht: den Gedanken, dass unser Universum Teil eines Multiversums ist. Unser Weg hat uns zu neun Variationen über das Multiversums-Thema geführt, die in Tabelle 11.1 zusammengefasst sind. Im Detail unterscheiden sich die einzelnen Vorschläge zwar stark, alle legen aber die Vermutung nahe, dass unser dem gesunden Menschenverstand entsprechendes Bild der Wirklichkeit nur einen Teil eines größeren Ganzen ausmacht. Und sie alle sind unübersehbar von menschlichem Erfindungsreichtum und menschlicher Kreativität geprägt. Um aber festzustellen, ob die eine oder andere dieser
Ideen mehr ist als eine bloße mathematische Grübelei des menschlichen Geistes, brauchen wir mehr Erkenntnisse, Wissen, Berechnungen, Experimente und Beobachtungen, als wir bisher aufbringen können. Das endgültige Urteil, ob die Paralleluniversen im nächsten Kapitel der physikalischen Erzählung vorkommen werden, werden erst zukünftige Generationen fällen können.
Paralleluniversum-Theorie
Beschreibung
Patchwork-Multiversum
In einem unendlichen Universum müssen sich die Bedingungen von einer Raumregion zur anderen zwangsläufig wiederholen, was zu Parallelwelten führt.
Inflationäres Multiversum
Immerwährende kosmische Inflation erzeugt ein riesiges Netzwerk von Blasenuniversen; eines davon ist unser Universum.
Branen-Multiversum
Im Branwelt-Szenario der String-/M-Theorie befindet sich unser Universum auf einer dreidimensionalen Bran; diese treibt in einer höherdimensionalen Weite, die von anderen Branen – anderen Paralleluniversen – bevölkert sein kann.
Zyklisches Multiversum
Kollisionen zwischen Branwelten können zu urknall-ähnlichen Anfängen führen, so dass zeitlich getrennte Paralleluniversen entstehen.
Landschafts-Multiversum
Durch Kombination der kosmischen Inflation und der Stringtheorie bringen die verschiedenen Formen der zusätzlichen Dimensionen aus der Stringtheorie viele verschiedene Blasenuniversen hervor.
Quanten-Multiversum
Die Quantenmechanik legt nahe, dass jede in ihren Wahrscheinlichkeitswellen verkörperte Möglichkeit in einem aus einer Riesenzahl von Paralleluniversen realisiert ist.
Holographisches Multiversum
Dem holographischen Prinzip zufolge wird das, was in unserem Universum geschieht, eins zu eins durch Phänomene widergespiegelt, die sich an einer weit entfernten Randfläche abspielen, einem dem unseren physikalisch gleichwertigen Paralleluniversum.
Simuliertes Multiversum
Technische Fortschritte legen die Vermutung nahe, dass simulierte Universen eines Tages möglich sein könnten.
Letztmögliches
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