Die verborgene Wirklichkeit
die sogenannte Parallaxe . Es ist eine Methode, mit der schon Fünfjährige regelmäßig experimentieren. Kinder sind häufig (vorübergehend) gefesselt, wenn sie einen Gegenstand anschauen und dabei abwechselnd das linke und das rechte Auge schließen: Dann scheint das Objekt hin und her zu springen. Wer schon seit einiger Zeit nicht mehr fünf Jahre alt ist, kann zu diesem Zweck das Buch in die Höhe heben und eine seiner Ecken betrachten. Sie scheint zu springen, weil das linke und das rechte Auge einen gewissen Abstand voneinander haben und deshalb in leicht unterschiedliche Richtungen zeigen, wenn man seinen Blick auf ein und denselben Punkt richtet. Ist das Objekt weiter entfernt, fallen die Sprünge weniger auf, weil der Winkel zwischen den beiden Richtungen kleiner wird. Diese einfache Beobachtung kann man zu einer quantitativen Methode ausbauen, indem man den exakten Zusammenhang zwischen dem Winkelunterschied zwischen den Blicklinien unserer beiden Augen – der Parallaxe – und der Entfernung des betrachteten Objekts ableitet. Um die Einzelheiten brauchen wir uns dabei keine Sorgen zu
machen; die erledigt unser Sehsystem automatisch. Aus diesem Grund sehen wir die Welt dreidimensional. q
Betrachtet man die Sterne am Nachthimmel, ist die Parallaxe so klein, dass wir sie nicht wahrnehmen können; unsere Augen stehen einfach zu eng beieinander, als dass sich ein nennenswerter Winkelunterschied ergeben würde. Die Parallaxe ist selbst dann zu klein, wenn wir statt unserer Augen höchst genaue astronomische Instrumente einsetzen, die wir so weit voneinander entfernt wie möglich platzieren. Dennoch lässt sich das Problem lösen: wenn man die Position eines Sterns gleich zwei Mal misst, und zwar im Abstand von sechs Monaten, und sich den Umstand zunutze macht, dass sich die Erde in der Zwischenzeit weiterbewegt hat und die Beobachtungsorte nun entsprechend weit auseinanderliegen. Durch die größere räumliche Trennung der Beobachtungsorte vergrößert sich auch die Parallaxe; sie ist zwar immer noch klein, in manchen Fällen aber doch so groß, dass man sie messen kann. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts wetteiferte eine Reihe von Wissenschaftlern darum, als Erster eine solche Sternparallaxe zu messen. Im Jahr 1838 entschied der deutsche Astronom und Mathematiker Friedrich Bessel den Wettbewerb für sich: Es gelang ihm, die Parallaxe des Sterns 61 Cygni im Sternbild Schwan (lateinisch: Cygnus) zu messen. Der Winkelunterschied betrug 0,000084 Grad, was einer Entfernung des Sterns von zehn Lichtjahren entspricht.
Seit jener Zeit wurde die Methode immer weiter verfeinert, und heute messen Satelliten weitaus kleinere Parallaxenwinkel, als Bessel es vermochte. Solche Fortschritte ermöglichten genaue Abstandsmessungen für Sterne, die bis zu einige tausend Lichtjahre von uns entfernt sind, aber bei noch größeren Abständen werden die Winkelunterschiede wiederum zu klein, so dass man die Methode nicht mehr anwenden kann.
Auf einen noch einfacheren Gedanken stützt sich ein anderes Verfahren, mit dem man sogar noch größere Entfernungen zu Himmelskörpern messen kann: Je weiter ein Licht aussendendes Objekt entfernt ist, seien es die Scheinwerfer eines Autos oder ein leuchtender Stern, desto stärker verteilt sich das Licht auf seinem Weg zu uns im Raum, und entsprechend schwächer scheint das Objekt zu leuchten. Vergleicht man die scheinbare Helligkeit eines Objekts (wie man sie von der Erde aus beobachtet) mit seiner absoluten Helligkeit (wie man sie aus
einem gegebenen »Standardabstand« sehen würde), kann man daraus die Entfernung ableiten.
Der gar nicht so kleine Haken daran ist die Aufgabe, die wirkliche Helligkeit astrophysikalischer Objekte zu ermitteln. Leuchtet ein Stern schwach, weil er besonders weit entfernt ist oder weil er ganz allgemein nicht viel Licht abgibt? An dieser Frage wird deutlich, warum man sich seit Langem darum bemüht, eine relativ verbreitete astronomische Spezies zu finden, deren tatsächliche Helligkeit man zuverlässig ermitteln kann, ohne sie vor Ort in direkter Nachbarschaft des Objekts zu messen. Wenn man solche sogenannten Standardkerzen findet, hat man einen einheitlichen Standard zur Beurteilung von Entfernungen. Aus dem scheinbaren Helligkeitsunterschied zwischen zwei Standardkerzen kann man direkt erschließen, wie viel weiter weg die leuchtschwächere der beiden entfernt ist.
Über ein Jahrhundert lang wurde eine ganze Reihe von Standardkerzen vorgeschlagen
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