Die verborgenen Bande des Herzens
er fort, wischt sich mit dem Taschentuch leicht über die Nase, »wie gesagt, stellen Sie sich vor, Sie lebten in einem Haushalt mit einem Alkoholiker. Sie lieben diesen Menschen, aber es ist unmöglich, mit so einem Menschen zusammenzuleben. Sie lügen ihm zuliebe. Sie decken ihn. Und schließlich erkennen Sie, dass Sie, indem Sie diesem Menschen helfen und unter die Arme greifen, seine Alkoholabhängigkeit nur noch schlimmer machen. Deshalb kommen Sie zu dem Schluss, dass Sie in Zukunft hart und unbeugsam sein werden. Tough Love, ja? Kennen Sie diesen Begriff?«
»Ja.«
»Also, wenn dann der geliebte Mensch Sie das nächste Mal bittet, für ihn bei der Arbeit anzurufen und ihn krankzumelden, weigern Sie sich. Sie sagen ihm, er solle gefälligst selber lügen; Sie werden nicht mehr für ihn lügen. Und wenn er Sie anfleht, ihm zu sagen, wo Sie seine Schnapsflaschen versteckt haben, weigern Sie sich. Und wenn er um Mitternacht betrunken heimkommt und vor verschlossener Haustür steht, weigern Sie sich, sie für ihn aufzumachen. Also, normalerweise, weil Sie diesen Menschen lieben, können Sie sich seinen Bitten nicht widersetzen. Doch Sie wissen, Sie müssen sich widersetzen, weil das der einzige Weg ist, ihm zu helfen. Indem Sie für ihn lügen, ihm die Flaschen aushändigen, die Tür öffnen, gestatten Sie ihm, sich weiter negativ zu verhalten. Aber es fällt Ihnen nicht leicht, so unnachgiebig zu sein. Also lösen Sie sich von ihm. Sie begeben sich an einen anderen Ort, mental. Sie lassen nicht mehr zu, dass Sie seinen flehenden Blick sehen oder seine verzweifelte Stimme hören müssen. Das ist die einfachste Form einer Dissoziation.«
Das habe ich mein ganzes Leben lang gemacht. Mich losgelöst, entfernt. Mich in Gedanken an einen anderen Ort begeben. Irgendwohin, wo ich Macht besaß, wo ich die Zügel in der Hand hatte, wo ich keinen Schmerz verspürte. Irgendwohin, wo mein Vater vor mir im Staub lag und um Gnade winselte. Mir wird bewusst, dass Hammond eine Pause eingelegt hat und wartet.
»Und Carol Ann …«, sage ich.
»Carol Ann? Oh ja, wir reden ja über Carol Ann, nicht wahr?«
Ganz schön gerissen, dieser Hammond. Er will, dass ich weiß, dass er weiß, dass es hier um mich geht.
»Nun, Carol Ann hat sich vielleicht mental so weit entfernt, dass sie schließlich auch physisch auf Distanz gehen konnte.«
»Ich weiß Bescheid über Josie.«
Hammond nickt bloß, als wäre dieser Umstand ohne Belang. Er hat recht. Ich will nicht über Josie sprechen. Oder Carol Ann. Jetzt will ich mir alles von der Seele reden. Ich will ihm erzählen von den Schatten und den nächtlichen Schweißausbrüchen und der Wut. Ich will ihm erzählen von der Angst, der Angst vor meinem Vater, die ich nur überwinden konnte, indem ich unbesiegbar wurde. Die Angst, die ich selbst jetzt nicht wahrhaben darf, weil sie mich sonst komplett auffressen würde. Ich will ihm erzählen von den geheimen Ängsten, die sich tief vergraben in meinem Inneren drängen, die mir schreckliche Dinge zuflüstern über meine Unfähigkeit zu lieben oder die Liebe eines anderen Menschen anzunehmen.
»Im Leben eines jeden Menschen gibt es Zeiten, wo man seine emotionalen Probleme nicht mehr bewältigen kann. Um diese These zu erläutern … um Ihnen zu zeigen, wie das Ganze abläuft, bitte ich Sie, einmal Ihr eigenes Leben zu betrachten. Haben Sie je den Wunsch verspürt wegzulaufen?«, will Hammond von mir wissen.
Jetzt ist die Gelegenheit da, jetzt ist meine Chance gekommen. Doch noch während ich seinen Worten lausche, zucke ich bereits mit den Achseln, ziehe in einer betont sorglosen, abschätzigen Geste lässig die Mundwinkel nach unten.
»Da fällt mir, ehrlich gesagt, nichts dazu ein. Ich bin nicht der Typ, der wegläuft.«
»Keine Schwierigkeiten mit dem Partner? Keine finanziellen Probleme? Keine persönlichen Probleme? Er lächelt. »So jemanden wie Sie findet man selten, Karen.«
»Ja.«
»Natürlich entfernen sich die Menschen auf verschiedene Weisen aus unangenehmen Situationen. In der akutesten Ausprägung legen manche Menschen Hüllen um ihre Persönlichkeit. Oder sie entwickeln sogar eine gespaltene Persönlichkeit. Die Dissoziation ist ein sehr verbreitetes Phänomen, wenn ein Mensch ein Trauma erlebt hat. Eine Vergewaltigung, körperliche Gewalt, einen plötzlichen tragischen Unfall, Missbrauch in irgendeiner Form …«
»Aha.«
»Und wenn sich im Leben eines Menschen solche traumatischen Ereignisse häufen – ständige
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