Die verborgenen Bande des Herzens
eine altjüngferliche Tante, hochrot im Gesicht, keuchend vor Panik. Doch Michael kam, wie immer, auch an diesem Abend in McGettigan’s Pub, und wir plauderten miteinander, als wäre nichts gewesen. Seitdem hat weder er noch ich den Vorfall angesprochen. Nichts drängt uns, wir haben alle Zeit der Welt, um herauszufinden, was da zwischen uns läuft.
Wir reden kaum, während er arbeitet, aber unser Schweigen ist locker und unverkrampft, überhaupt nicht peinlich. Gelegentlich ertappt er mich dabei, wie ich ihn beobachte, und dann schmunzelt er. Manchmal macht er irgendeine Bemerkung zu seiner Arbeit, etwa »Wir brauchen noch mehr Farbe« oder »Ich fahre morgen nach Balgannan und besorge Lack.« Immer um halb neun mache ich ihm eine Tasse Tee, und dann unterbricht er seine Arbeit, setzt sich auf den Boden, lehnt sich mit dem Rücken gegen die Küchenzeile, die den Koch- vom Wohnbereich trennt. Er streckt seine langen Beine aus, auf seinen schwarzen derben Arbeitsstiefeln mit den runden Kappen liegt ein dünner Film aus Staub und Sägemehl. Die runden Kappen dieser Arbeitsstiefel wecken eine Erinnerung in mir, bringen Glocken zum Läuten, die ich verstummen lassen will.
»Ich mag es, wenn du mir Gesellschaft leistest«, sagt er.
Ich lächle.
»Du redest nicht viel«, erwidere ich in gespieltem Tadel.
»Nein.«
Er führt seine Tasse zum Mund und trinkt einen Schluck Tee.
»Die Leute reden zu viel«, sagt er. »Sie reden und reden, und meistens ist nichts dahinter.«
»Da hast du wohl recht.«
»Ich rede nur, wenn ich auch etwas zu sagen habe. Und es fällt mir nicht schwer, dir zu sagen, was ich dir sagen möchte.«
Etwas wie Panik steigt in mir hoch, eine Mischung aus Sehnsucht und Furcht. Bitte nicht, bitte nicht, ach bitte … Ich wüsste nicht, wie ich reagieren sollte, wenn er nun das aussprechen sollte, was er, wie ich insgeheim hoffe, denkt.
»Ich liebe den Farbton dieser Wand. Gut, dass du mich überredet hast, die hellere Nuance zu nehmen. Dieses Pink ist …«
»Ich mag dich wirklich sehr, Cara.«
Die Angst hüllt mich ein, legt sich um meinen Körper wie ein klammes schweres Badetuch. Das Zimmer kommt mir plötzlich so eng vor.
»Ich mag dich auch, Michael«, sage ich in leichtem Ton, als wäre dies eine Unterhaltung über Freundschaft.
»Es ist mehr als das.«
»Ich …«
»Du brauchst jetzt auch gar nichts darauf zu erwidern. Ich will nur, dass du es weißt.«
»Michael, ich bin so viel älter als du. Wenn ich … wenn du …«
»Nicht so viel älter.« Er legt den Kopf in den Nacken, lehnt ihn gegen den Küchenschrank und reibt sich mit dem Handrücken über die Nase, wobei er einen schwarzen Staubschmierer hinterlässt. »Wie alt bist du?«
»Wahrscheinlich alt genug, um deine Mutter zu sein. Wie alt bist du?«
»Dreißig.«
»Wenn ich eine frühreife Zwölfjährige gewesen wäre, könnte ich deine Mutter sein.«
»Warst du eine frühreife Zwölfjährige?«
»Nein.«
»Na, siehst du.«
Es stimmt, wäre es anders herum, wäre der Altersunterschied ohne Bedeutung. Und Michael hat so viel Faszinierendes an sich. Er besitzt eine Tiefgründigkeit, die einlädt, sich in ihr zu verlieren. Es wäre so leicht. Ich könnte mich einfach da, wo er sitzt, auf den Boden legen, meinen Kopf in seinen Schoß betten, zum Himmel hochschauen und zum ersten Mal seit Jahren die Sterne wieder sehen. Er würde mir übers Haar streichen, und das andere würde sich wie von allein ergeben, ganz selbstverständlich, ganz natürlich. Wie wenn eine Jahreszeit in die andere übergeht.
Das Begehren, das ich insgeheim verspüre, ist ziemlich verworren. Ich will die Intimität so sehr, dass ich nicht sicher bin, ob ich Michael will. Vielleicht will ich einfach nur das, was er mir anzubieten scheint. Ich denke, wenn ich mit Michael zusammen wäre, wäre er auf ewig mein. Aber dachte ich nicht früher genauso über Alex? Es ist so lange her, ich kann mich kaum noch daran erinnern.
Ich bin jedoch nicht frei, und es fällt mir schwer zu glauben, dass eine solche Verbindung mit Michael möglich ist. Selbst jetzt bin ich noch nicht frei. Auch wenn man sich räumlich entfernt, sich den anderen entzieht, bleibt der Geist weiter eingesperrt. Man wird an seine Vergangenheit gebunden bleiben, egal wie viel Zeit vergeht, egal wie weit man sich räumlich distanziert, wenn man nicht gleichzeitig seinen Geist freilässt. Meiner ist mit feinen Fäden umwoben, hauchdünne silbrige Spinnweben haben sich immer weiter um ihn
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