Die Verborgenen
Wenn die Kamera noch funktioniert hätte, könnten wir jetzt alles sehen, was sich hier abgespielt hat.«
Vielleicht war die Kamera erst unmittelbar vor dem Mord zerstört worden. Gut möglich, dass das Verbrechen dann kein Akt spontaner Gewalt, sondern eine länger geplante Tat war. Natürlich würde sich Pookie die zuvor gemachten Aufnahmen besorgen, doch er wusste schon jetzt, dass er wahrscheinlich nichts Verwertbares finden würde. »War Woody noch am Leben, als ihm der Arm abgetrennt wurde?«
»Aber klar doch«, sagte Sammy. »Das Blut ist in alle Richtungen gespritzt wie Wasser aus einem Feuerwehrschlauch, Mann. Ich will euch etwas zeigen. Kommt mit und seht euch das an.«
Pookie, der Sammy folgte, hielt nach ein, zwei Schritten plötz lich inne, als er bemerkte, dass Bryan auf dem Bürgersteig zurückgeblieben war. Bryan schien auf die Erlaubnis zum Mitkommen zu warten. Pookie deutete mit dem Kopf heftig in Richtung Gasse: Komm endlich.
Pookie Chang hatte schon viele Dinge gesehen, die einen Menschen verändern konnten, aber das Gleiche galt für Bryan Clauser. Vielleicht hatte Bryan eine Sache zu viel gesehen.
Bryan betrat die Gasse. Pookie ließ ihn an sich vorbeigehen und folgte ihm. Er wollte Bryan ständig im Auge behalten.
Hier gibt es nichts zu sehen
B ryan folgte Sammy Berzon in die Gasse. Er fühlte sich, als kehrte er an einen Tatort zurück, dessen Verbrechen er selbst verantwortete.
Doch das hier hatte er nicht getan. Konnte er nicht getan haben.
Sammy hob die Hand zum Zeichen, dass Bryan und Pookie stehen bleiben sollten. Dann deutete er auf den Boden. Nicht mit einem einzelnen Finger, sondern mit der ganzen Handfläche. Er führte eine Art Wischbewegung aus, die besagen sollte: Ihr müsst das ganze Bild in euch aufnehmen.
»Mir ist schon klar, warum ihr das hier übersehen habt«, sagte Sammy. »Ich meine, wenn es noch größer wäre, dann würde es nicht mehr in diese verdammte Gasse passen, was?«
Auf dem Asphalt befanden sich zwei Zeichnungen aus getrocknetem Blut, in dem Erdreste, Kieselsteine, Fleischfetzen, kleinere Abfälle und sogar ein gebrauchtes Kondom klebten. Jede der beiden Zeichnungen war so breit wie die Gasse – etwa viereinhalb Meter – und so umfangreich, dass Bryan das größere Bild für eine zufällige Ansammlung einzelner Blutspuren gehalten hatte. Jetzt erkannte er zwei große Kreise, die beide von Linien durchschnitten wurden, sowie … was war das? … ein Dreieck, durch das sich ebenfalls Linien zogen, vielleicht …
Er erkannte das Bild. Die Erkenntnis kam wie ein Schock über ihn.
Bryan kannte eines der beiden Bilder nur allzu gut, weil er es selbst gezeichnet hatte.
Das zweite Bild kannte er nicht.
»Interessant«, sagte Pookie. »Die Zeichnung mit dem Dreieck sieht wirklich faszinierend aus, nicht wahr, Bryan? Sie kommt mir irgendwie vertraut vor, aber ich könnte nicht sagen, warum.«
Bryan antwortete nicht. Er musste sich zwingen, zu atmen. Ja, das obere Bild hatte er selbst gezeichnet, und jetzt fand er es hier wieder, angefertigt mit dem Blut eines Mordopfers. Sein Körper schmerzte. Sein Gesicht fühlte sich heiß an. Über all das wollte er keine Minute länger nachdenken.
»Ihr zwei seid ganz hervorragende Beobachter«, sagte Sammy. »Die Zeichnungen haben schließlich nur einen Durchmesser von viereinhalb Metern, was?«
»Verpiss dich, Sammy«, sagte Pookie. »Dein Sarkasmus passt gerade nicht.«
Bryan starrte die Symbole an. Sie waren verschieden, aber beide besaßen diese gebogene Linie mit den zwei Einschnitten. Was bedeutete das? Was bedeutete das alles ?
»Und dann sind es ja auch noch zwei Zeichnungen«, sagte Sammy. »Aber die hätte jeder übersehen können, stimmt’s? Ich meine, ihr beiden Genies könntet …«
Pookie wirbelte herum, packte Sammy bei der Schulter und schüttelte den kleinen Mann. »Ich hab gesagt, halt die Klappe , Sammy. Kapiert?«
Sammy nickte geschockt. Pookie ließ ihn los.
Bryan sah sich um. Die übrigen Polizisten waren verstummt. Alle starrten Pookie an. Pookie, der niemals die Nerven verlor. Pookie, der nie eine wütende Bemerkung machte.
Pookie registrierte, wie seine Kollegen ihn musterten. Er drehte sich um und starrte Bryan an. Dann ging er davon, um mit den uniformierten Beamten zu sprechen.
Bryan folgte ihm durch das schwarze Gittertor, wobei er sorgfältig darauf achtete, nicht auf die blutige Zeichnung zu treten. Er blieb allein auf dem Bürgersteig stehen und fragte sich, ob Pookie die
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