Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
lehnte sich an den Kachelofen und las das Libretto zu Smetanas Die verkaufte Braut. Ihr Dozent hatte ihnen aufgetragen, sich zu der Oper ein Bühnenbild auszudenken, und er wollte nicht nur eine Skizze sehen, sondern sie sollten auch ein kleines Modell bauen.
Sie hörte den Schlüssel in der Wohnungstür und einen Moment später stand Jens im Raum.
Schau mal, was ich hab’!
Jens kniete sich auf den Fußboden und faltete vor Marie eine Landkarte auseinander.
Die Mongolei!
Es war eine der Karten, die er bei Anke bestellt hatte und mit denen sie von den Zollbeamten erwischt worden war. Jens hatte die Karten der US Air Force sicherheitshalber zunächst in der Wohnung eines Freundes zwischengelagert. Er hatte sie am Rand beschnitten, damit man ihre Herkunft nicht mehr erkennen konnte.
Auf der Karte waren nur wenige Orte eingezeichnet. Überall waren weite Flächen, Wüste und Steppe, mehr oder weniger leer. Flüsse, Berge und Seen, aber kaum Straßen und Städte.
Bor Khayrhan Uul, Ikh Tailgyn Ovoo, Khamtynkhuch …
Im Norden fiel ihnen ein riesiger See auf. Lake Khövsgöl stand da.
Wie sich das bloß ausspricht?
Jens und Marie sahen sich an. Er mochte keine Prognose darüber wagen, wann es ihnen gelingen würde, einen Einheimischen diesen Namen aussprechen zu hören. Aber Jens war sich sicher, Marie und er würden es schaffen.
Hier sind die heißen Quellen von Tsenkher … von denen habe ich schon gehört.
Jens fuhr mit seinen Fingern weiter auf der Karte entlang. Wir durchqueren Russland, dann reisen wir durch die Mongolei. Weiter, als ich je gekommen bin. Irgendwann werden wir zusammen durch die Steppe reiten.
Marie konnte sich an der Karte nicht sattsehen. Sie freute sich, dass Jens es mit den Reiseplänen ernst meinte und sie, ohne es ihr zu sagen, vorangetrieben hatte.
Wir brauchen nur noch eine Einladung. Eine Einladung in die Mongolei. Damit könnten wir dann vielleicht ein Visum bekommen.
Jens richtete sich wieder auf und setzte sich neben Marie.
Ich habe von einem Biologen gehört, der dort eingeladen war. Er wohnt an der Müritz. Lass uns am Wochenende hinfahren und mal sehen, ob wir mit ihm reden können.
Es war Nachmittag und recht warm für einen Frühlingstag. Jens wollte an den Dias für den Vortrag weiterarbeiten. In der Küche tranken sie noch einen Tee zusammen. Jens wurde plötzlich ernst.
Du, an der Uni hat es heute ein Treffen der FDJ -Gruppe gegeben , erzählte er. Ich glaube, sie haben es auf mich abgesehen.
Sie haben beim letzten Tagesordnungspunkt darüber diskutiert, wie das Studium zu absolvieren ist. Erst klang es wie üblich, ganz allgemein. Am Ende drehte sich alles um mich.
Es könne nicht sein, meinte der Gruppenleiter, dass Einzelne vom vorgesehenen Studienplan abwichen. Dies gehe auf Kosten der anderen. Die Verantwortlichen hätten sich doch den Aufbau des Studiums gründlich überlegt.
Eine eifrige FDJ lerin habe dem Leiter beigepflichtet. Jens äffte die Studentin mit erhobenem Zeigefinger nach:
Wenn wir uns nicht an die vorgeschriebenen Seminare halten, dann kommt doch alles durcheinander. Wohin soll das denn führen?
Beide mussten schallend lachen.
Er selbst habe daraufhin vorsichtig zu bedenken gegeben:
Kann man das nicht auch anders sehen? Sagt mal eure ehrliche Meinung. Es war für mich die einzige Chance, die Vorlesungen von Tembrock noch mitzubekommen.
Darauf sei aber niemand eingegangen. Stattdessen habe der FDJ-Gruppenleiter gegen ihn Stimmung gemacht.
Unser Jens exponiert sich wie immer gern mit seiner eigenen Meinung, als ob es nicht schon die richtige gäbe.
Am Ende sei er aufgefordert worden, nicht länger aus der Reihe zu tanze n und ab jetzt keine einzige Stunde Russisch mehr zu versäumen.
Marie strich ihm über die Haare und wechselte ins Russische.
Moy lyubimy … Mein Liebster … Мой любимый
Jens starrte in seine Tasse und seufzte.
Ich kann die Sturheit und Enge der Argumentation nicht verstehen. Wie soll man denn später als Wissenschaftler in eigener Verantwortung forschen können, wenn man es nicht schon während des Studiums ausprobieren kann?
Er stand auf, holte sich ein paar Sachen aus dem Nebenraum und blieb im Türrahmen stehen.
Ich kenne sie doch, die greifen jeden an, der sich die Freiheit nimmt, die sie gern hätten.
Kopfschüttelnd verschwand Jens zum Seitenflügel.
Marie wusste, dass er dort einige Stunden mit seinen Dias verbringen würde. Sie hatte keine Lust, allein in der Wohnung zu bleiben. Sie sah aus
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