Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Wasserturm. Jens war auf diesem Teil des Daches noch nie gewesen. An einigen Stellen reckten sich junge Birken aus den Regenrinnen empor.
Marie lockte ihn weiter, bis zum letzten Haus der Rykestraße. Von hier aus konnten Jens und Marie über den ganzen Platz mit dem Wasserturm schauen. Aus der Straßenschlucht unter ihnen wehte warme Luft herauf. In den meisten Wohnungen brannte jetzt Licht. In der Abenddämmerung wirkte alles still und friedlich.
Der alte Wasserturm überragte selbst die hohen Bäume.
Wie aus dem Nichts stürzten plötzlich Vögel mit schrillem Schrei auf die beiden zu. Marie duckte sich weg.
Sind das die kleinen Raubvögel vom Prenzlauer Berg?, fragte sie Jens lachend und nahm ihn in den Arm.
Das sind Mauersegler. Die nisten dort, wo die Steine am Wasserturm tiefe Löcher bekommen haben, und in den alten Jalousiekästen und Ritzen der Häuser. In Leipzig habe ich mich mit Bergsteigerfreunden vom Dach abgeseilt, in die Nester gegriffen und die Jungvögel beringt. Mauersegler sind was Besonderes, im Sommer können sie sich monatelang ohne Unterbrechung in der Luft aufhalten. Sie schlafen sogar im Flug. Bei schlechtem Wetter suchen sie manchmal Hunderte Kilometer von hier entfernt nach Futter für ihre Jungen.
Marie beobachtete den wendigen Flug der Mauersegler und sagte: Aber zurück kommen sie immer, nicht wahr?
Jens nickte. Sie zog ihn noch einen Schritt vor, in Richtung Dachkante. Einige Jugendliche saßen unten auf dem Hügel, der vom alten Wasserwerk übrig geblieben war. Ein Junge mit Jeansjacke hatte seine Gitarre dabei. Seine Akkorde drangen bis zu ihnen hinauf.
Vor hundert Jahren waren hier überhaupt keine Häuser.
Marie hielt Jens unvermittelt die Augen zu.
Stell dir mal vor, hier wäre alles freies Feld! Und du kannst ganz weit sehen. So war das hier mal, ist gar nicht so lange her. Freies Feld und nur ein paar Windmühlen. Kannst du es sehen?
Dann gab sie seine Augen wieder frei.
Hast du auch die Windmühlen gesehen? Manchmal muss man die Augen schließen, um mehr zu sehen.
Jens sah hinunter in die Rykestraße. Hinter einem erleuchteten Fenster auf der anderen Straßenseite saß eine junge Familie am Abendbrottisch. Jetzt hörten sie auch, was der Junge unten beim Wasserturm spielte.
»… we’re just two lost souls swimming in a fish bowl, year after year, / Running over the same old ground. What have we found? The same old fears. / Wish you were here …«
Sie hatten sich hingesetzt und eine Weile der Musik gelauscht. Es war darüber dunkel geworden. Vorsichtig gingen sie zurück zu dem Lager, das Marie für die Nacht vorbereitet hatte.
Am Morgen lagen sie eng beisammen in ihren Schlafsäcken, die nass vom Tau waren. Die Sonne und der einsetzende Lärm der Stadt ließen sie nicht länger schlafen. Niemand hatte mitbekommen, dass sie die ganze Nacht auf dem Dach verbracht hatten. Nur die Mutter aus dem dritten Stock, die mit ihren Kindern frühmorgens zur Krippe aufbrach, blickte verdutzt, als sie im Treppenhaus auf Jens und Marie mit den Schlafsäcken unter dem Arm und einer leeren Weinflasche in der Hand stieß.
Guten Morgen, Frau Richter!
Die Nachbarin erwiderte den Gruß nur zaghaft.
JENS HATTE SICH für den Vormittag einen Besuch in der Bibliothek vorgenommen. Er freute sich darauf, die ersehnte Reise mit Marie weiter vorzubereiten. Sie waren seit Monaten ein Paar, verliebt und vertraut. Die Sehnsucht nach der Ferne verband die beiden Abenteuerlustigen immer stärker.
Jens las alle Bücher und Zeitschriftenartikel, die er über die Mongolei finden konnte, und übertrug die Informationen, die ihm wichtig schienen, auf eng beschriebenes Briefpapier, das er zusammengefaltet mitnehmen und bei der Reise immer dabeihaben wollte. Er markierte sich Orte auf seinen Landkarten. Er fand eine Erzählung von Franz Kafka und brachte sie mit nach Hause: »Beim Bau der Chinesischen Mauer«.
MARIE HATTE SICH an diesem Vormittag mit Jule verabredet, einer Studentin aus einem höheren Jahrgang, die sie erst vor kurzem an der Kunsthochschule kennengelernt hatte. Ihr Entwurf für das Bühnenbild der Verkauften Braut musste in drei Wochen fertig sein, sie wollte mit Jule darüber sprechen. Marie musste das Studienjahr gut beenden, denn sie hatte sich ausgerechnet, dass sie von der geplanten Reise möglicherweise nicht ganz rechtzeitig zum nächsten Semester zurück sein würde.
Es war nicht weit bis zu Jule. Nach ein paar Minuten bog sie in die Marienburger Straße ein. An einer
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