Die verbotenen Evangelien: Apokryphe Schriften
hebräisch und bedeutet „arm, fromm“. Ebjonim werden sich die Mitglieder dieser Gruppe also bezeichnet haben, weil sie sich für Auserwählte hielten, für die „Armen“ bzw. „Frommen“, denen die Heilsbotschaft Jesu (vgl. Mt 5,3; Apg 4,34–35), aber auch die der Heiligen Schrift des „Alten Testaments“ in besonderer Weise gilt (vgl. Jes 41,17)
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Die Tora, die fünf Bücher Mose, dürfte bei den Ebjoniten einen großen Stellenwert gehabt haben. Jesus ist für sie eine wichtige Person, jedoch als Vollender des Gesetzes und im Sinne eines großen Propheten. Mit der Gottheit Jesu dagegen scheinen sie Schwierigkeiten gehabt zu haben. Dass sie Paulus als Vernichter des Gesetzes abgelehnt haben, ist angesichts ihrer judenchristlichen Position selbstverständlich
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Das ihnen zugeschriebene Evangelium, das wohl im späten 2. Jahrhundert entstanden ist, gehört zu jenen Apokryphen, die nicht in eigenen Handschriften bezeugtsind, sondern lediglich aus Werken frühchristlicher Schriftsteller erschlossen werden können
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Die Kenntnis des Ebjonitenevangeliums verdanken wir Epiphanius. Dieser christliche Erzbischof und Kirchenlehrer aus Salamis verfasste in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts ein Kompendium, das unter dem vielsagenden Titel „Arzneikasten“ (griech. panárion) eine umfassende Übersicht und Verurteilung von 80 Häresien bietet. Und darunter findet sich auch eine Auseinandersetzung mit den Ebjoniten und ihrem Evangelium, das von Epiphanius aber fälschlicherweise als Hebräerevangelium, hebräisches Evangelium und verfälschtes Evangelium nach Matthäus bezeichnet wird
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Aus den Zitaten des Epiphanius lässt sich zwar nicht das gesamte Ebjonitenevangelium rekonstruieren, aber es werden einige Texte geboten und glücklicherweise auch der Anfang des Evangeliums, aus dem hervorgeht, dass das Evangelium die Geburt Jesu nicht berichtet hat. Epiphanius kritisiert das Evangelium wegen seiner Darstellung Jesu, der Ablehnung des Opferkultes und der Befürwortung vegetarischer Ernährung
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Der größte Abschnitt (1–3) schildert das Auftreten von Johannes dem Täufer, die Berufung der Jünger durch Jesus und seine Taufe durch Johannes. Der Text orientiert sich an den Synoptikern, hat aber seine Eigenheiten. Neben der merkwürdigen Einzelheit, dass Abschnitt 2 von der Berufung von 12 Aposteln spricht, aber nur acht Namen nennt, ist vor allem die Version der Taufe Jesu (Abschnitt 3) interessant. Die Taufe Jesu durch Johannes wird in allen vier kanonischen Evangelien erzählt, und sie dürfte ein historisches Faktum sein, zumal die Evangelisten, vor allem Johannes, starken Anstoß daran nehmen. Auffällig ist nun beim Ebjonitenevangelium, dass Johannes, nachdem er Jesus getauft hat, die Taufe von Jesus erbittet. Die Antwort Jesu „Lass ab, denn so geziemt es sich, damit alles erfüllt wird.“ ist aus Mt 3,15 entnommen, bezieht sich dort aber auf ein Wort Jesu vor seiner Taufe: Johannes soll ihn taufen, damit sich dadurch alles erfüllt
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Der vierte Abschnitt bietet die synoptische Perikope zur Frage nach Jesu Mutter und Brüdern, der fünfte beschäftigt sich mit Opfern und lässt trotz der Kürze der Aussage erkennen, dass die in den kanonischen Evangelien bezeugte Vollmacht Jesu gegenüber dem Gesetz geradezu einer Gesetzesfeindlichkeit im Blick auf die Opfer gewichen ist. Im Hintergrund steht offenbar eine starke Opposition gegen den jüdischenTempelkult. Der letzte Abschnitt schließlich greift die Frage von Mt 26,17 für die Vorbereitung des letzten Abendmahles auf und lässt in der Antwort Jesu dessen Vorbehalte gegen den Verzehr von Fleisch erkennen
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Die Anordnung der Abschnitte des Ebjonitenevangeliums in der vorliegenden Übersetzung, die der Ausgabe von Erich Klostermann folgt, ist hinsichtlich der ersten drei Abschnitte nicht ganz sicher. Bei den Synoptikern folgt nämlich die Berufung von Jüngern durch Jesus immer auf seine Taufe durch Johannes, während das Ebjonitenevangelium offensichtlich erst vom Auftreten des Johannes am Jordan, dann von der Jüngerberufung durch Jesus und schließlich von seiner Taufe durch Johannes erzählt. Eine Umstellung, die sich an der synoptischen Abfolge orientiert, ist aber kaum sinnvoll, weil Jesus im zweiten Abschnitt – „Da trat ein Mann mit Namen Jesus auf etwa 30 Jahre alt …“ zum ersten Mal eingeführt wird, was nach der Taufe Jesu durch Johannes unmöglich wäre. Sollte Epiphanius hier etwa aus zwei unterschiedlichen Vorlagen zitiert
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