Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich
wann er kommt?»
Agathe lachte. «Weil ich ein Naseweis bin», erklärte sie. «Das sagt meine Mutter. Der Zauberer weiß auch, wo es die Zuckerkringel gibt. Gestern war Markttag. Da hat die Bäckerin frische Butter gekauft. Also sind die Kringel heute besonders lecker.»
Jutta nickte. Diesem Argument konnte sie ohne weiteres folgen.
«Und war er schon da, der stumme Zauberer?»
Wieder nickte das Kind. «Ja. Er stand an der Haustür. Und er hat gehört, wie Ihr geschrien habt. Da ist er schnell davongelaufen.»
«Wohin?», fragte Minerva und konnte die Aufregung in ihrer Stimme kaum unterdrücken.
Agathe zuckte mit den Achseln. «Dorthin, wo er immer hingeht, wenn er die Kringel gekauft hat. Er isst sie nämlich nicht sofort.»
«So wie du das machst», ergänzte Jutta.
«Ja. Er schleppt sie in den Wald. Dort hat er ein Haus, aber das können nur Kinder sehen. Weil er doch ein Zauberer ist.»
«Hast du dieses Haus schon einmal gesehen?»
Das Kind zog eine Schnute. «Nein. Mutter hat mir verboten, ihm zu folgen.»
«Wo ist das Haus?»
Agathe deutete auf einen Fußpfad, der sich am Waldrand zwischen den Bäumen verlor.
«Dort geht es lang», sagte das Kind.
«Wohin führt der Weg?»
«Na, in den Wald natürlich!»
Von irgendwo erklang ein Ruf. «Agathe? AGATHE !»
Das Kind erschrak. «Meine Mutter. Kriege ich jetzt die Kette?»
Minerva nestelte an dem Schmuckstück. «Das ist Pegasus», erklärte sie in aller Eile. «Ein geflügeltes Pferd, das Geschichten hütet.»
Und Jutta kramte in ihrem Geldbeutel nach einem Groschen für die Zuckerkringel.
«Was geht hier vor?»
Sie hatten die schmale Frau mit der hellen Haube nicht herankommen hören.
«Agathe, was machst du da?»
Minerva und Jutta erhoben sich. «Sie hat uns sehr geholfen. Wir suchen den Mann, den man den Stummen nennt.»
Die Frau griff nach dem Mädchen, zog es an ihren Körper.
«Den kennen wir nicht, mit dem haben wir nichts zu schaffen.»
«Das glauben wir gern. Aber wir sind ihm auf den Fersen, denn er hat womöglich eine junge Frau in seiner Gewalt, die unsere Freundin ist.»
Die Mutter kniff zweifelnd die Augen zusammen. «Sie ist doch nicht etwa schwanger, die Freundin, oder?»
Jutta seufzte tief. «Doch, das ist sie. Also sagt rasch, was Ihr über ihn wisst.»
Die Frau schien besänftigt. «Nicht viel. Er kommt hierher zu dem verrückten Professor. Sonst haust er in einer Hütte im Wald. Es heißt, er sucht sich schwangere Frauen, aber was er mit denen macht, das weiß niemand.»
«Wer sagt so etwas?»
«Die Leute, wer sonst. Aber gesehen hat keiner was, der eine hat’s nur vom anderen gehört. Da!» Sie zeigte auf den Pfad. «Diesen Weg nimmt er immer. Früher hat ihn nur der Förster benutzt, aber der ist im Winter gestorben, und einen neuen haben wir noch nicht.»
«Wohin führt der Weg?»
«Ich bin ihn noch nie gegangen, aber die Leute sagen, er führt bis hinter den Lohrberg, dort, wo die Straße nach Vilbel geht.»
«Ihr glaubt also, dass er im Wald zwischen Lohrberg und Vilbel wohnt?»
«Das ist gut möglich. Irgendwo dort, wo sich im Winter die Wölfe rumtreiben.»
Jutta und Minerva bedankten sich bei der Frau und verabschiedeten sich.
Sie waren schon ein ganzes Stück entfernt, als Minerva plötzlich wie angewurzelt stehen blieb.
Dann sah sie sich nach der Mutter und nach Agathe um und rannte schnell wie ein Pfeil hinter ihnen her.
«Was ist nun wieder?», wollte Jutta wissen, doch Minerva beachtete sie nicht.
Keuchend blieb sie vor der Mutter stehen. «Der Förster, habt Ihr gesagt, ist im letzten Winter gestorben.»
«Ja, das stimmt.»
«Hatte er einen Hund, Euer Förster?»
«Natürlich. Jeder Förster hat einen Hund. Also auch unserer.»
«Ist der noch am Leben? Der Hund, meine ich.»
«Ich weiß es nicht. Aber wenn, dann lebt er mit der Försterin. Geht den Weg nach Frankfurt zurück. Im letzten Haus, da wohnt sie. Für Eure Freundin wünsche ich Euch alles Gute. Findet sie besser schnell.»
Jutta beobachtete die Szene von weitem. Mit einem Mal verschwamm alles vor ihren Augen. Sie kniff sie zusammen und riss sie
wieder auf, aber das Verschwommene blieb.
Sie seufzte. Ich bin nicht mehr die Jüngste, dachte sie. Im Sommer werde ich fünfzig Jahre alt. Kein Alter für eine Frau, um die ganze Nacht in der Gegend herumzurennen. Ihre Kehle war so trocken, als hätte jemand sie mit dickem Leinenstoff ausgelegt. Ihr fiel ein, dass sie das letzte Mal bei Gustelies etwas getrunken hatte.
Sie
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