Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich
Lilo verschwunden ist. Die alte Seifensiederin wurde befragt, aber sie ist sich mittlerweile sicher, dass ihre zukünftige Schwiegertochter nach Wien aufgebrochen ist, um bei ihrem Liebsten zu sein.»
«Pffft!», machte Hella. «Nie im Leben.»
«Wieso?», fragte der Richter.
«Weil eine Schwangerschaft kein Osterspaziergang ist. Wenn die Lilo noch bei Trost ist, dann kriegt sie ihr Kind schön zu Hause und nicht in irgendeiner verwanzten Herberge unterwegs.»
Pater Nau, der bislang geschwiegen hatte, hob den Kopf. «War etwas merkwürdig an der Toten?», fragte er.
«Alles an ihr. Oder findest du es normal, jemanden auszuweiden?»
Pater Nau reagierte nicht. Stur beharrte er auf seiner Frage. «Nichts Komisches an ihr? Der Kopf? War der in Ordnung?»
Gustelies kniff die Augen zusammen. «Warum in aller Welt willst du das wissen? Du hast heute Morgen schon so seltsam gefragt.»
Pater Nau setzte seine Unschuldsmiene auf. «Ich sehe das Ganze theologisch. Das Herz könnte der Sitz der Seele sein. Deshalb fehlt es. Womöglich handelt es sich um Seelenraub. Und zur Seele gehört nun einmal der Verstand. Deshalb will ich wissen, wie ihr Kopf aussah.»
Ihm kamen die Worte selbst eigenartig vor, deshalb wunderte er sich auch nicht, als Gustelies aufstand und ihm eine Hand auf die Stirn legte. «Fieber hat er nicht mehr.»
Der Richter aber nickte. «Erstaunlich, dass du das fragst. An der Toten war tatsächlich eine Besonderheit. Ein Stück Kopfschwarte fehlte ihr. So, als hätte man sie skalpiert. Doch wenn der Schultheiß der Ansicht ist, dass dies natürliche Ursachen hat, dann ist es so. Und wer von uns weiß schon, ob es nicht tatsächlich so war. Es ist doch gut möglich, dass ein Wolfsrudel die Arme so zugerichtet hat.»
«Das glaubst du doch nicht im Ernst?», wollte Hella wissen.
Blettner seufzte. «Es ist immerhin eine Erklärung, die nicht ganz von der Hand zu weisen ist.»
Er hob die Schultern und breitete die Arme aus. «Wir können uns hier die Köpfe heißreden, doch es ändert nichts an der Tatsache, dass es in diesem Falle nichts mehr aufzuklären gibt.» Er sah zu seiner Frau, die beide Hände schützend über ihr ungeborenes Kind gelegt hatte. «Und ehrlich gesagt, ein Teil von mir ist gottfroh darüber. Und jetzt lasst uns endlich das Thema wechseln.»
Pater Nau schluckte. Sein Gesicht hatte mit einem Mal die Farbe von Hafergrütze. Er schenkte sich Wein ein, stürzte den Becher in einem Zug hinunter. Dann stand er auf. «Ich fühle mich doch noch ein wenig schwach», murmelte er dabei und verließ die Küche.
Gustelies schüttelte den Kopf. «Er ist noch nicht ganz gesund. Nein, wahrhaftig nicht. Ich werde Bruder Göck bitten müssen, auch morgen die Messe zu übernehmen. Und die Beichte womöglich auch.»
Während sich die Unterhaltung unten in der Küche um den neuesten Stadtklatsch drehte, kniete Pater Nau mit gefalteten Händen vor dem kleinen Altar in seiner Studierstube. Sein Blick war auf den gekreuzigten Jesus gerichtet. «Herr, was soll ich tun?», fragte er.
Der Mann am Kreuz schwieg.
«Ich muss doch etwas unternehmen. Zwei Kopfschwarten habe ich schon in der Krippe versteckt. Womöglich taucht schon bald eine zweite Tote auf. Und dann? Ich zittere vor jeder Beichte. Es ist nicht ausgeschlossen, dass schon morgen ein dritter Skalp auf der Sünderbank liegt.»
Jesus blieb noch immer stumm, dafür meldete sich eine zweite Stimme in Pater Naus Kopf. «Das Beichtgeheimnis. Du hast geschworen, es zu wahren. Es ist deine Pflicht zu schweigen.»
«Aber wenn es die nächste Tote gibt? Wenn ich rede, vielleicht kann ich dann weitere Morde verhindern. Gott wird ein Einsehen mit mir haben. Es muss weiter ermittelt werden. Ich weiß, dass es kein Wolf war, der die Frau zu Tode gebracht hat.»
«Das ist nicht deine Aufgabe. Du bist Pater, kein Ermittler. Das Beichtgeheimnis kann allein vom Papst aufgehoben werden.»
«Aber ich muss doch etwas tun. Ich MUSS . Meine Nichte ist schwanger. Ich kann nicht zulassen, dass noch weitere Morde in dieser Stadt geschehen. Meine Aufgabe ist es doch auch, die Menschen vor Schuld und Unrecht zu bewahren. Und nach Rom reisen und den Papst um Aufhebung des Schweigegelübdes bitten, kann ich erst recht nicht. Bis ich wieder zurück bin, ist am Ende halb Frankfurt skalpiert und gemordet.»
«Dann denk dir etwas aus. Aber vergiss nicht, du musst schweigen über das, was du im Beichtstuhl gehört und gesehen hast.»
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