Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich
ziemlich rasch geöffnet. Ein Mann stand vor ihnen, mit einem Gesicht, welches so schmal war, dass es an einen Pferdekopf erinnerte. Die Augen lagen tief verschattet in den Höhlen und hatten die Farbe von schlammigem Flusswasser. Als der Mann den Mund öffnete, schrak Gustelies zurück. Lange gelbe Zähne unterstrichen den Eindruck des Pferdegesichtes noch.
«Gelobt sei Jesus Christus.»
«In Ewigkeit. Amen. Wir waren schon einmal da, und eine freundliche Frau teilte uns mit, dass wir Euch hier heute antreffen. Ihr seid doch Vater Raphael?»
Die gelben Pferdezähne rissen auseinander. «Ja, ganz richtig. Der bin ich. Vater Raphael. So zumindest nennen mich unsere lieben Kinder hier. Wie kann ich Euch helfen, Ihr guten Bürgersfrauen?»
Gustelies warf sich in die Brust und richtete ihre Haube. «Nun, wir kommen von der Liebfrauenkirche in der Stadt. Unsere Gemeinde hat sich der Nächstenliebe verschrieben. Wir wollen uns stärker als bisher um die Findelkinder kümmern. Unter unseren Schäfchen gibt es zahlreiche Handwerkersfrauen, die von Kleidungsstücken bis zu Einrichtungsgegenständen vielerlei Dinge herstellen können. Wir sind gekommen, um zu sehen, was die Euch Anvertrauten benötigen.»
Die Zähne klappten zusammen, der Mund Vater Raphaels war ein dünner Strich. «Wir danken Euch sehr», sprach er, doch seine harte Stimme strafte die Worte Lügen. «Im Augenblick haben wir alles. Nochmals vielen Dank, dass Ihr Euch herbemüht habt. Wenn Bedarf besteht, so werden wir uns gern an Euch wenden.»
Er nickte und wollte die Tür schließen, doch Jutta Hinterer hatte ihre Fülle bereits dagegengeworfen. Wie sonst auch nahm sie kein Blatt vor den Mund.
«Verstehe ich Euch richtig, Vater Raphael? Ihr wollt uns hinauswerfen? Ihr verweigert uns das Betreten des Findelhauses? Einer Einrichtung, die von den Steuern der braven Frankfurter bezahlt wird? Man könnte meinen, Ihr habt was zu verbergen. Dürfen wir nicht wissen, wofür Ihr unsere Gelder ausgebt?»
Der Mann schüttelte seinen Pferdeschädel, dass ihm die spärlichen Haare um die Ohren flogen. «Wir sind eine Einrichtung zum Schutze der Findelkinder. Viele haben Schreckliches erlebt. Euer Besuch würde sie nur verstören.»
«Aha!» Gustelies hob den Finger. «Seid sicher, auch uns liegt das Wohl der Kinder am Herzen.» Ihre Stimme wurde lauter: «Und zwar so sehr, dass ich meinen Schwiegersohn, den Herrn Richter, über Euer seltsames Verhalten in Kenntnis setzen werde. Ich bin gespannt, ob die Stadtknechte, die er zweifelsohne schicken wird, Eure Kinder nicht noch mehr verstören.»
Vater Raphael schnaubte, und wieder fühlte sich Gustelies dabei an ein Pferd erinnert. Unauffällig, wie sie hoffte, betrachtete sie seine Füße. Doch die schienen ganz normal, steckten in derben Holzpantinen, die mit Leder überzogen waren.
Der Vater öffnete wortlos, doch mit mürrischer Miene das Tor, und Gustelies und Jutta traten in den Innenhof des Findelhauses.
Verblüfft sahen sie sich um. Der Hof war aus gestampftem Lehm. Sonst gab es nichts. Keinen Baum, keinen Strauch. Nirgendwo war zu erkennen, dass hier Kinder lebten. Es gab keine Lumpenbälle, die in irgendwelchen Ecken lagen, keine Birkenruten, zu Pfeil und Bogen gebunden, keine Reifen, Kreisel, nichts. Gar nichts.
Die Stille, die hier herrschte, war bedrückend. Gustelies schluckte. «Wo sind die Kinder?»
Vater Raphael zuckte mit den Achseln. «Wo sollen sie schon sein? In der Kirche natürlich.»
«Alle? Auch die Neugeborenen? Die, die man auf den Kirchenschwellen fand?»
Vater Raphael nickte ernsthaft. «Gerade für diese ist es wichtig, so früh wie möglich in die Nähe des Herrn zu kommen.»
Jutta drängte sich vor. «Erzieht Ihr die Kinder nach dem alten, dem katholischen Glauben, oder habt Ihr Euch der neuen Kirche, der lutherischen, zugewandt?»
Der Pater blickte Jutta mit einiger Abscheu an. «Wir wahren hier den einzig rechten Glauben.» Er hob einen Finger. «Den alleinig wahren und rechten Glauben, und das ist der lutherische.»
Jutta nickte eingeschüchtert, doch Gustelies stapfte bereits entschlossen über den Hof. «Zeigt uns, wie die Kinder leben», befahl sie.
Der Vater schlurfte lustlos hinter ihr her.
Das Gebäude war ein zweistöckiger, langgestreckter Bau, der ebenfalls in völliger Stille lag. Hinter der Haustür befand sich ein Vorsaal. Mehrere Paar Holzpantinen in allen möglichen Größen standen ordentlich nebeneinander. Links führte eine Tür in einen großen Saal,
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