Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich
abgemagerte Kinder mit großen, schreckgeweiteten Augen.»
Heinz Blettner hob die Augenbrauen. «Im Findelhaus?»
«Genau. Drüben, in Sachsenhausen.»
«Und was habt ihr beiden, bitte schön, im Findelhaus verloren?»
Gustelies riss den Mund auf, doch ihr Schwiegersohn hob die Hand. «Nacheinander. Und von Anfang an. Ich will die ganze Geschichte hören.»
Jutta nickte, legte der Freundin beruhigend eine Hand auf den Rücken, dann begann sie: «Wir haben nach dem Neugeborenen gesucht. Wenn es überlebt hat, dann muss es ja irgendwo sein, oder?»
Heinz nickte.
«Und wo gibt man Neugeborene ab, die man nicht brauchen kann?»
«Im Findelhaus», erklärte Heinz. «Der Einfall stammt natürlich von Gustelies, oder?» Seine Stimme wurde lauter. Er beugte sich über den Schreibtisch, und dieses Mal war es sein Gesicht, welches die Farbe von Septemberäpfeln annahm. «Und ihr beiden seid losgezogen, um auf eigene Faust zu ermitteln. Himmelherrgott, wie oft muss ich euch noch predigen, dass Criminalia Männersache sind?»
Gustelies lehnte sich im Stuhl zurück, presste die Lippen aufeinander und verschränkte die Arme. Ich sage nichts mehr, hieß diese Geste.
Jutta aber winkte ab. «Predigen kannst du später. Jetzt geht es erst einmal um die Kinder. Im Findelhaus, musst du wissen, regiert Vater Raphael. Nur dass bei unserem ersten Besuch dort überhaupt keine Kinder da waren. In der Kirche wären sie, erklärte Raphael. Neugeborene gäbe es derzeit überhaupt nicht. Das letzte habe Pfarrer Küttler, der Lutherische, an eine kinderlose Familie vermittelt.»
Jutta holte Luft. «Wir sind noch nicht dazu gekommen, die Sache zu überprüfen. Irgendwas kannst du ja schließlich auch tun.»
Heinz Blettner schnappte nach Luft, der Schreiber kicherte, verstummte aber augenblicklich unter den drohenden Blicken des Richters. «Weiter!», forderte Blettner die Geldwechslerin auf.
«Na ja, wir sind noch einmal hin, haben uns von hinten an das Grundstück herangeschlichen.» Sie hob den Fuß und zeigte ihren nassen Strumpf vor. «Mein Schuh ist dabei im Abfallgraben gelandet. Sag dem Stadtkämmerer Bescheid, ich muss mir ein neues Paar machen lassen. Auf Stadtkosten natürlich.»
«Natürlich!» Blettner verdrehte die Augen. «Dafür ist die Stadtkasse ja da. Der Kämmerer wartet nur auf so was. Und dann?»
Jetzt rutschte aufgeregt Gustelies auf ihrem Stuhl hin und her. «Und dann sind wir durch den Zaun und zum Hintergebäude. Gruselig war’s, denn alles war so still. Wie auf einem Friedhof. Nur ein Rascheln und Knispern lag in der Luft, als würden Geister durch die Luft rauschen.»
«Weiter!»
«Jetzt hetz mich nicht so», beschwerte sich Gustelies. «Wir haben immerhin Schreckliches erlebt! Mir ist jetzt noch ganz übel vor Angst. Wo war ich?»
«Beim Zaun», half ihr Jutta auf die Sprünge. «Und bei den Geistern.»
«Ja, der Zaun. Wahrscheinlich habe ich mir mein Kleid zerrissen.»
«Neue Kleider gibt’s vom Stadtkämmerer nicht wegen deiner Alleingänge», ergänzte der Richter.
«Darüber reden wir später. Jedenfalls war da das Rascheln und Knispern. Jutta hat die Spitzbubenleiter gemacht, und ich habe ins Innere des Hauses geguckt.» Sie hielt inne und schöpfte tief Luft. «Und da waren die Kinder. Kleine Kinder, winzige Mädchen und Jungen, die meisten keine sechs Jahre alt. Sie hockten dort im Halbdunkel und mussten schuften wie die Brunnenputzer. Und vorne stand das Weib von Vater Raphael und schwang die Peitsche.»
Gustelies nickte noch einmal bekräftigend, dann ließ sie sich erschöpft gegen die Stuhllehne sinken.
Richter Blettner zog die Unterlippe zwischen die Zähne. «Ihr wollt mir also sagen, dass die Kinder im Findelhaus zur Arbeit gezwungen werden?»
«Na, endlich!» Jutta machte Anstalten zu klatschen. «Ja, genau das wollen wir sagen. Kleine Kinder. Du musst sie da rausholen. Und den Vater Raphael musst du ins Verlies stecken. Für mindestens hundert Jahre. Und sein Weib gleich mit.»
«Hmm», brummte Blettner und kratzte sich am Kopf.
«Willst du nicht die Büttel rufen? Sag denen, die sollen nicht unbewaffnet dorthin gehen», schlug Gustelies vor.
«So einfach geht das nicht. Wenn es so ist, wie ihr sagt, ist kluges Vorgehen vonnöten.»
Er stand auf. «Zunächst einmal danke ich euch herzlich. Womöglich seid ihr dieses Mal wahrhaftig auf ein Verbrechen gestoßen. Ich werde euch auf dem Laufenden halten.» Er wies mit der Hand zur Tür.
«Was soll das denn?», empörte sich
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