Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich
sie.
Hella war der Meinung, diesen Mann noch nie gesehen zu haben, doch sie wusste auch, dass der Eindruck täuschen konnte. Er hatte ein so nichtssagendes Allerweltsgesicht, dass er ihr gleichzeitig vollkommen fremd und vertraut wie ein alter Hauslatsch erschien.
«Gott zum Gruße», sagte er.
«Euch auch Gottes Segen», erwiderte Hella.
«Es ist kalt heute, nicht wahr?»
Hella zuckte mit den Achseln. Ihr war glühend heiß unter dem groben Umhang. «War schon schlimmer. Der Frühling wird bald kommen.»
Der Mann lächelte freundlich und deutete auf ihren gewaltigen Leib. «Nicht nur der Frühling.»
Hella lächelte, legte eine Hand vorsichtig auf ihren Bauch. «Da habt Ihr wohl recht», sagte sie, konnte aber nicht verhindern, dass ein Seufzer aus ihrer Kehle stieg.
«Es ist nicht leicht in dieser Zeit, ein Kind zu bekommen. Besonders, wenn man keinen Mann dazu hat, nicht wahr?»
Hella wollte empört widersprechen, doch dann fiel ihr ein, dass sie wie eine Magd gekleidet war. Sie nickte und benutzte Pater Naus Lieblingsspruch. «Ja, das Leben ist ein Graus und die Erde ein Jammertal.»
«So ist es, so ist es. Sagt, habt Ihr einen Platz für das Kind?»
Hella seufzte noch einmal aus tiefstem Herzen. Es machte ihr jetzt Spaß, in die Rolle einer Magd zu schlüpfen. Sie setzte eine Leidensmiene auf und erwiderte mit dünner Stimme: «Vielleicht findet sich im rechten Augenblick ein Stall mit einer Krippe.» Insgeheim musste sie über ihre biblischen Worte kichern, aber der Mann sah sie mitleidig an. «Wovon wollt Ihr leben, Mädchen? Mit dem Säugling findet Ihr schwerlich eine Arbeit.»
Wieder seufzte Hella so theatralisch, wie sie nur konnte. «Ich vertraue auf den Herrn. Es gibt viele, die nicht säen und nicht ernten, aber der Herr ernährt sie doch.»
Der Fremde schien die Bibel ebenfalls zu kennen. Er nickte schwermütig und legte ihr seine überraschend feine Hand auf den Arm. «Schwer werdet Ihr es haben. Euer ganzes Leben lang. So viel Sorgen, so viel Leid für eine einzige Stunde Liebe.»
«Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen», entgegnete Hella und fügte in Gedanken hinzu: «Neues Testament, erster Korintherbrief, Kapitel dreizehn.»
«Aber das Leben, mein Kind, hat gezeigt, dass es für die Armen nicht so ist. Habt Ihr’s noch nicht am eigenen Leib gespürt? Die Kälte und die Hartherzigkeit?»
«Doch, doch.» Hella nickte.
«Da kann man schon verstehen, dass so manche, der es ging wie Euch, ins Wasser gegangen ist. Habt Ihr nie daran gedacht?»
In Hellas Kopf schwirrten die Gedanken plötzlich wie Bienen in einem Stock durcheinander. Ihr Körper spannte sich, als wittere sie Gefahr. Es waren weniger die Worte des Mannes, die sie entsetzten, sondern eher sein Blick, der mit einem Male etwas Lauerndes hatte.
Sie schlang den Umhang fester um sich. «Ich muss gehen», sagte sie. «Mein Onkel sitzt im Verlies. Ich muss schauen, wie es ihm geht.»
Der Mann nickte. «Ja, die Armen. Verlies, Verzicht, Verderben. Das ist ihr Los. Da scheint der Himmel doch für vieles eine Lösung zu sein.»
Hella erschauerte. Sie nahm ihren Korb in die eine Hand und betätigte mit der anderen den schweren Türklopfer der Warte.
Der Mann nickte ihr zu, dann ging er weiter, als hätte er es urplötzlich eilig. Hella sah ihm nach. Die Worte des Wärters erst holten sie aus ihren Gedanken.
«Was wollt Ihr? Wir haben keine freien Nachtlager.»
Hella wandte sich um. «Meinen Onkel will ich besuchen, Pater Nau.» Sie sprach die Worte so hoheitsvoll, dass der Wärter die Augen zusammenkniff. «Seid Ihr das, Richtersweib?»
Hella straffte die Schultern. «Wer denn sonst?»
Der Wärter schluckte. «Ich dachte, Ihr seid eines von den armen Dingern, die sich zum Gebären keinen anderen Rat mehr wissen, als im Verlies anzuklopfen.»
«Ach, ja? Gibt es so etwas?» Hella wunderte sich.
«Aber ja. Jede Menge. Und im Frühjahr besonders. Da kommen die, die sich im Sommer im Heu vergnügt haben und nun weder ein noch aus wissen.»
«Und nehmt Ihr sie auf?»
Der Wärter schüttelte den Kopf. «Nein, der Rat hat’s verboten. Eine ist uns gestorben dabei, und dann wollte niemand die Schuld daran tragen. Eine andere hat sich heimlich weggeschlichen und uns ihren Säugling dagelassen. Jetzt hat der Rat dem einen Riegel vorgeschoben.» Er deutete auf das massive Türschloss und kicherte über seinen Witz.
«Und was geschieht mit den Frauen, die Ihr
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