Die Verdammten der Taiga
unbeweglich und wie durchsichtig. Ein blutleeres Antlitz, weiß bis in die Tiefe hinein.
»Du kannst gehen –«, sagte die Susskaja kalt. »Und du weißt, was ich jetzt weiß! Es gibt keine Flucht mehr in das Gebet, mein spitzschnabeliges Täubchen, kein Verstecken hinter dem getretenen Seelchen, kein Verkriechen in die vom Himmel geschützte Höhle der Reinheit! Steh auf, sag ich!«
Das Kommando kam so zwingend und hart, daß Nadeshna zusammenzuckte und aufstand. Fassungslos starrte Andreas zu Katja hinauf. Er wollte etwas fragen, aber die Susskaja zeigte bereits zur ›schönen Ecke‹.
»Dorthin –«
»Katja Alexandrowna –«, stammelte Nadeshna. Ihre Stimme war so kindlich und kläglich, daß jeder andere sie sofort an sich gedrückt hätte.
»Dorthin!«
Wie eine aufgezogene Puppe marschierte Nadeshna zur ›schönen Ecke‹. Erst am Tisch blieb sie stehen und klammerte sich an der Plattenkante fest. Ihr gegenüber hing das Marienbild, die Mutter Gottes mit den schiefen Brüsten … und auf einer Art Konsole stand die schöne geschnitzte Krippe mit der Heiligen Familie, den drei Königen, den Hirten, den Schafen, Eseln und Rindern. Und ein Spruch hing da, den Morotzkij mit schöner Zierschrift auf ein Stück blank geschabten Fells geschrieben hatte, nachdem Nadeshna lange in ihrem Gedächtnis nach einem guten Wort zum Segen des neuen Hauses gesucht hatte: ›So aber spricht der Herr: Liebet einander, denn ich habe euch geschaffen, daß ihr die Liebe erkennt.‹
Als damals der Spruch an die Wand genagelt wurde, hatte Putkin laut gerülpst und gesagt: »Mein Kommentar. Verzeiht, Freunde, daß die Luft oben herausgekommen ist … sie sollte einen kürzeren Weg nehmen …«
»Wir sind ehrliche Menschen«, sagte die Susskaja. Ihre dunkle Stimme hatte wieder diesen Glockenton, vor dem man nicht wegrennen konnte. Er hüllte einen ein, er fesselte jeden dort, wo er stand. »Wir haben bis jetzt alles Leid miteinander ertragen, wir haben uns unser Leben von der Taiga zurückerobert, wir sind die Verdammtesten der Verdammten und aufeinander angewiesen wie die linke Hand auf die rechte Hand. Wir haben gemeinsam einen Kampf ums Leben vor uns, von dem keiner weiß, ob wir ihn gewinnen werden. Aber wir werden ihn mit Sicherheit verlieren, wenn der eine den anderen belügt. Es gibt nichts Ehrlicheres als die Taiga – sie zeigt uns, wie sie ist. Warum zeigen wir uns nicht, wie wir sind?«
»Katjenka –«, stammelte Nadeshna Iwanowna. »Verlang es nicht von mir … bitte, bitte … Ich flehe dich an … Soll ich auf die Knie fallen …«
Die Susskaja griff nach vorn, riß den schönen Wandspruch ab und hielt das bemalte, geschabte Fell Nadeshna vor die Brust.
»Los!« sagte sie mit einer Kälte, die in Nadeshna eindrang wie ein Dolch. »Los, du Engel aus billigem Gips –«
Mit zitternden Händen griff Nadeshna zu, mit geschlossenen Augen zerriß sie das dünne Fell. Sie ließ die Fetzen fallen, als würden sie in ihren Fingern brennen und drückte die Hände flach gegen ihre bloße Brust.
»Weiter –«, sagte die Susskaja mitleidlos. »Ich reiche es dir an …«
Zuerst die Schafe der Krippe … das dünne Holz zersplitterte in Nadeshnas immer heftiger bebenden Händen. Die Esel … die Kühe … die knienden Hirten … die Könige Kaspar … Melchior … Balthasar … der heilige Josef … alles zerbrach unter Nadeshnas Händen. Die Splitter und Holzstücke regneten an ihr herunter oder blieben zwischen ihren Brüsten und in der Bluse liegen.
»Nicht weiter –«, stammelte sie, als die Susskaja ihr die Maria reichte. »Katjuschka, peitschen Sie mich aus … nicht weiter …«
»Hast du Mitleid mit Igor Fillipowitsch gehabt?« Sie drückte ihr die Marienfigur in die Hand. »Los, zerbrich es …!«
»Katja!«
»Es gibt für uns in der Taiga nichts Tödlicheres als die Lüge! Los!«
Nadeshna lehnte sich an die Tischkante, drückte die Figur an ihre Brust und brach den Kopf der Maria ab. Als sie das leise Knacken hörte, schrie sie gellend auf und ließ die Geköpfte aus ihren Fingern fallen. Mit weiten Augen starrte sie auf die Hand der Susskaja. Auf der flachen Handfläche lag das kleine, nackte Jesuskind.
»Und noch einmal –«, sagte Katja kalt.
»Nein!« Nadeshna warf den Kopf weit zurück. »Putkin soll mich töten! Jawohl, er soll mich töten! Aber das nicht, das nicht!«
»Putkin kann dich nicht mehr töten. Ein Toter verzeiht den Lebenden.«
Nadeshna fuhr herum. Ihr Mund riß auf in einem
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