Die Verfolgerin - Roman
Publikum gehört nicht zum Stück. Ich frage mich, ob es sich vielleicht tatsächlich um eine Theateraufführung handle. Vielleicht findet in München die lange Nacht des Theaters statt und ich bin in einer Theater-U-Bahn gelandet. Ich schaue mir die anderen Fahrgäste an. Die tun so, als würden sie die beiden Frauen weder hören noch sehen, dabei sprechen diese so laut, wie Schauspielerinnen auf einer Bühne. Raumfüllend. Und dabei bewegen sie sich, als müssten sie jede Geste, jedes Wort, jeden Gesichtsausdruck grösser machen als er ist, wie Schauspielerinnen das tun. Sie sprechen über das Orchester, den Dirigenten und Sigi, der gesagt habe, dass sie nach dem Konzert noch nach nebenan kommen sollten in diese Bar. Die kleinere Braunhaarige sagt, dass sie für heute Abend noch mehrere Anfragen habe. Sie sagt, dass manchmal alle auf einmal sich mit ihr treffen wollen und dann gebe es Abende, da sitze sie zuhause vor dem Computer und möchte am liebsten in die ganze Welt E-Mails schicken und allen mitteilen, dass sie zuhause und allein sei und auf Mails und Anrufe warte. Die Blonde schrickt zusammen und fragt, was wäre, wenn die vergessen hätten, die Karten für sie zu hinterlegen. Das haben die nicht, sagt die andere. Die Blonde macht ihre Handtasche auf und holt eine silberne Pistole heraus, zielt auf die andere und sagt: Und wenn, dann laufen wir Amok, das ist doch gerade In. Fluchtwagen dürften genug vor der Oper bereitstehen. Die Dunkelhaarige lacht. Ich schmunzle die beiden an. Die sehen mich nicht. Ich bin Publikum. Ich mache mir Sorgen, dass die anderen Fahrgäste die Fiktion der Szenerie nicht verstehen könnten, und schaue mich um. Die Fahrgäste tun weiterhin so, als würden sie die beiden weder hören noch sehen. Die U-Bahn hält. Der Blonden fällt ein, dass sie aussteigen müssen. Die beiden Frauen verschwinden schnell durch die Tür. Die anderen Fahrgäste nehmen das nicht zur Kenntnis.
Das Sportfachgeschäft ist ein Kaufhaus über drei Etagen mit zwei Zwischengeschossen. Ich frage im ersten Zwischengeschoss einen Verkäufer, der einem Mann erklärt, was neu an der Skibindung ist, nach Nordic-Walking-Stöcken. Er wisse nicht, ob welche im Lager seien. Er rufe gleich an, sagt er und teilt dem Mann, den er gerade bedient, mit, dass er eigentlich alles zur Skibindung gesagt habe. Er solle es sich einfach in Ruhe überlegen. Ich setze mich auf einen der Hocker in der Skistiefelabteilung und schaue auf die Wand voller Skistiefel vor mir. Eine Frau einige Meter neben mir probiert einen rosafarbenen Skistiefel an. Sie hinkt, als hätte sie einen Gipsverband statt einen Skistiefel am Fuss. Ein Kaufhaus ist ein Ort, an dem alle damit beschäftigt sind, in Ruhe darüber nachzudenken, ob sie das, was sie gerade in den Händen halten, kaufen sollen. Jemand legt mir die Hand auf die Schulter. Es ist Tills Hand. Stämmig. Klein. Breite Finger. Der Verkäufer bringt Nordic-Walking-Stöcke. Es seien noch welche im Lager, die könne er ordern und dann seien sie morgen da. Die hier habe er noch da gehabt, weil ein Kunde sie zurückgegeben habe. Sei wohl nicht das richtige Modell gewesen. Er schraubt das Teleskopstück auseinander. Er wolle nur schauen, ob alles okay sei und nicht doch eine Reklamation vorliege. Und: Ob für mich denn das Modell in Ordnung sei. Ich sage, dass für meine Zwecke das Modell keine Rolle spiele. Wichtig sei nur, dass die Stöcke nicht auffällig wären, keine grellen Farben oder Markenschriftzüge hätten. Das scheint mir ja ein mysteriöser Zweck zu sein, meint Till. Wenn du mich etwas fragen willst, dann frage jetzt, sage ich. Till spitzt seinen Mund, als wolle er pfeifen, und schaut in die Luft. Hast du dann etwas Zeit?, fragt er. Er nimmt mich mit in eine Kneipe in der Nähe des Schlachthofes. ›Roter Hahn‹ heisst die. Sie ist voller Menschen, die sitzen alle um Holztische. Es sind so viele Stühle mit Menschen im Raum, dass wir kaum durchkommen. Überall stehen Kerzen auf den Tischen, irgendwo spielen Musiker. Vor der Tür hängt ein Filzvorhang. Warm und stickig ist es. Es scheinen immer mehr Menschen zu werden. Wo kommen die her? Quellen die aus den Parkettritzen hervor? Ich kann den Fussboden nicht sehen, zu viele Menschen, zu dunkel, nur Kerzenlicht im Raum. Und Hitze. Die Gesichter leuchten rot und glänzen. Till hält mich an der Hand. Damit wir uns in der Menge nicht verlieren. Er quetscht sich auf eine Bank, schiebt die Leute soweit zusammen, dass ich auch noch Platz
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