Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verfolgerin - Roman

Die Verfolgerin - Roman

Titel: Die Verfolgerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: edition 8
Vom Netzwerk:
so, dass du da bist, sagt sie und legt ihre Hand auf meinen Unterarm.
    Die Fotos hängen an einer Leine in ihrem Arbeitszimmer und sind mit Klammern befestigt. Gesichter von Frauen und Männern auf der Strasse, in Gebäuden, Gesichter von Gemälden abfotografiert, von Statuen. Sie habe versucht, aus Gesichtern Empfindungen herauszulesen. Hier schau, um den Mund der Medusa spielt Ekel und Gier und über dem gesamten Gesicht liegen ein Ausdruck von Abscheu und ein Hauch von Trauer. Und schau dir den Satyr an, in dessen Gesicht ist Überdruss gemeisselt. Und sieh dir die Philosophen an. Emilia ordnet den Namen Empfindungen zu und zeigt auf ihre Gesichter. In Homers Gesicht liege der Ausdruck des Schwärmers, in Platons der des Beobachtenden, in Sokrates der des Siebengescheiten, in Meanders der des Hinterlistigen. Die Mona Lisa trägt über jedem Empfindungsausdruck im Gesicht einen Schleier. Das mache das Geheimnis aus. Und sie habe sich die Gesichter der Menschen in der Metro in Paris angeschaut und in München, vor allem in der Theatinerstrasse. Sie habe einfach im Vorübergehen die Kamera draufgehalten, etwa in Brusthöhe, und abgedrückt ohne durchzusehen. Sie habe es so gemacht, wie ich es ihr erzählt habe. Das habe funktioniert. Sie habe die Gesichter erwischt. Unverfälscht. Hätte ich die Leute gefragt, dann wäre allein schon durch das Wissen, dass sie fotografiert werden, der Ausdruck verändert. Emilia ist begeistert über die Gesichter und all das, was sie darin lesen kann. Sie ruft aus: Schau dir das doch mal an. Die Pärchen. Bei denen kannst du genau lesen, dass ihre Gedanken um die Verletzungen kreisen, die der jeweils andere ihnen vermeintlich zufügt. Sie sehen erschöpft aus von der Beziehung, enttäuscht. Schau. Hier der junge Mann, der in sein Croissant beisst. Er ist mit den Gedanken ganz woanders, nur nicht beim Croissant. Emilia ist berauscht von ihren Fotos und ihren Entdeckungen. Ich sage, dass ich für mein Vorhaben nach Gesichtern suche, die leer sind. In denen es keine Empfindungen gibt. Emilia hält inne: Ob es solche überhaupt gibt, sagt sie. Sie habe keine entdeckt. Sie habe anfangs danach gesucht, weil sie die Idee so gut fand, aber sich dann einfach auf Gesichter, in denen sie lesen konnte, gestürzt. Ich sage ihr, dass mir solche Menschen begegnet sind und dass es sie gibt. Sie sagt, dass sie das spannend finde, aber irgendeinen Ausdruck auf dem Gesicht müsse wohl jeder haben. Wer nichts empfinde, sei doch wohl tot. Wir gehen zurück ins Salettl. Emilia legt Birkenholz ins Feuer, giesst Tee nach, dabei fällt ihr ein, dass sie Champagner im Kühlschrank kaltgestellt hat. Sie stellt die Teekanne aufs Stövchen, holt den Champagner. Der Korken ploppt. Sie schenkt ein, dabei läuft Schaum über den Rand. Emilia scheint das nicht zu bemerken. Wir stossen an. Auf dass dein Vorhaben gelinge, sagt Emilia. Sie finde es sehr spannend, schon allein wegen des Gesichterlesens. Als sie das Glas absetzt, meint sie: Nur mit den leeren Gesichtern, ob das funktioniere, wenn es solche Menschen doch gar nicht gebe.

16
    Ich bin auf dem Weg in die Innenstadt, um in einem Sportfachgeschäft Nordic-Walking-Stöcke auszuwählen. Ich weiss nicht, ob es Nordic-Walking-Stöcke um diese Jahreszeit gibt. Minus neunzehn Grad hat das Aussenthermometer angezeigt. In drei Wochen ist Weihnachten. Es könnte am fünften Dezember auch plus neunzehn Grad haben. Ich habe vor einigen Jahren an einem fünften Dezember am Tegernsee in einem Eiscafé gesessen, Milchkaffee getrunken und dazu eine Kugel Schokoladeneis verspeist. Zwei Frauen sitzen mir in der U-Bahn gegenüber. Eine grosse Blonde und eine kleinere mit braunen langen Haaren. Sie sehen aus wie Filmstars, tragen eng anliegende Kleider mit tiefem Ausschnitt, Stiefel mit High Heels und wollene Mäntel mit Pelzkragen. Ihre Augen sind mit Eyeliner nachgezogen, das Make-up im Gesicht lässt ihre Haut jung erscheinen, und auf die Lippen haben sie naturfarbenen Lippenstift aufgetragen. Makellos wirken ihre Gesichter. Ich weiss nicht, was es heisst, dass ein Gesicht makellos wirkt. Ich denke darüber nach und denke an die Gesichter der Models von Modelabels. Die Grosse, Blonde holt aus ihrer Tasche ein Programmheft und teilt der anderen mit, dass sie sich auf den Tenor freue, dass er besonders gut sei. Sie singt ein paar Töne. Beide lachen. Sie sitzen mir gegenüber wie Schauspieler auf einer Bühne, die zwar von ihrem Publikum wissen, aber es nicht wahrnehmen. Das

Weitere Kostenlose Bücher