Die Verfolgerin - Roman
liegt über allem, der Wiese, den Sträuchern, den Beeten. Ich sehe zwei Farbschichten, wenn ich aus dem Fenster schaue. Grau und weiss: Wolken, die auf Schnee liegen. Im Zimmer brennen Kerzen. Dunkelrote. Von den vier auf dem Adventsteller brennt eine. Drei andere weisse stehen auf dem Fensterbrett. Sie sind angezündet. Der Ehemann liegt auf dem Sofa, zugedeckt mit einer Decke. Er greift von Zeit zu Zeit zum Plätzchenteller, den er von seiner Mutter aus Dorf mitgebracht hat, und der Tasse Tee, einen Earl Grey, den ich für ihn bereitet habe. Die Mutter hat Springerle gebacken, das sind Anisplätzchen. Den Teig hat sie in einer Form ausgebacken, sodass jedes Plätzchen wie ein Relief aussieht.
Er hebt seinen Kopf, um zu trinken. Er wirkt matt, wie ein Kranker. Er ist nicht krank, nur überarbeitet. Er legt seinen Oberkörper vorsichtig auf dem Sofa ab und atmet dabei geräuschvoll aus. Zwei Notoperationen in der Nacht, die er selbst leitete, weil zwei Kolleginnen ausgefallen waren, sind der Grund für seinen Zustand. Er lächelt mich an. Seine Gesichtshaut ist fahl, sie spannt um seine knochigen Wangen. Ich habe lange nicht mit ihm geredet. Über das, was ich gerade denke. Weil er mir nie erzählt, was er denkt oder empfindet. Empfindet er? Vielleicht ist es besser, wenn Kardiologen nicht empfinden. Vielleicht ist das eine Voraussetzung, um an einem lebenden Herzen operieren zu können. Ich nehme mir ein Anisplätzchen und frage ihn, was er empfindet, wenn er operiert. Er legt seinen Unterarm über die Stirn. Mhm. Das ist schwer zu sagen. Eigentlich nichts, sagt er. Denken würde ihn stören. Er sei konzentriert bei der Sache, beim Schnitt am Herz. Er schalte alle Gedanken aus. Ja, so ist das, sagt er und lächelt mich wieder an. Ein Lächeln, wie man ein Kind anlächelt, dem man gerade etwas Kompliziertes auf einfache Art erklärt hat. Hast du Sahne für den Tee, fragt er. Ich sage ihm nicht, dass ich ihn nach seinen Empfindungen, nicht nach seinen Gedanken gefragt habe. Ich hole ihm Sahne aus dem Kühlschrank und trinke von meinem Tee, der ungesüsst und ohne Sahne ist.
Ich mag den November und ich mag den Dezember, sage ich, während ich die Teetasse vorsichtig abstelle. Ich erkläre ihm warum und schaue dabei aus dem Fenster über die Schneedecke in die grauen Wolken, durch die Licht schimmert. Ich sage, November und Dezember seien meine Lieblingsmonate. Alles hat sich zurückgezogen. Das Licht. Die Farben. Die Tiere. Das tue gut. Keine Reize. Stille. Frieden. Der Ehemann geht nicht auf meine Worte ein. Er ist eingeschlafen. Seine Augen sind halb geöffnet. Sein Mund auch.
15
Emilia giesst Sahne in die Tassen ihres Teeservices von 1917. Es ist weiss mit Rosenblüten am Rand wie bei Stuckdecken. Es heisst Maria. Emilia hat im Salettl eingedeckt. Der Earl Grey zieht in der Teekanne, die auf einem Porzellanstövchen steht. Auf einer Kuchenplatte liegen ein Hefezopf und ein Messer. Sie sagt, dass der Hefezopf vom Rupfmüller stamme und der beste sei, den es in München zu kaufen gebe. Emilia schiebt Holzscheite in den Kachelofen. Es ist Birkenholz. Das brennt auch, wenn man es frisch geschlagen hat, sagt sie. Ich mag das, so am Ofen sitzen und draussen ist es recht grässlich, der Wind fegt ums Haus. Mein Onkel, dem das Haus gehörte, hat hier im Salettl im Winter immer am Ofen gesessen, nachmittags seinen Tee getrunken und in seinen Afrikabüchern gelesen. Er mochte Afrika. Und ich habe als Kind neben ihm gesessen und war selig, dass ich bei ihm sein durfte. Das erschien mir wie eine grosse Auszeichnung. Warum weiss ich nicht. Sie spitzt ihren Mund und hebt ihre Schultern. Ich stelle mir vor wie sie als kleines Mädchen neben ihrem Onkel gesessen ist, ihre grünen Augen gefunkelt haben und ihre roten Locken auf den Schultern gewippt sind. Sie schneidet den Hefezopf in dicke Scheiben. Ich schaue wie sich dabei ihre Schulter bewegt. Sie habe in den letzten Wochen viel fotografiert, sagt sie. Goldgelb schimmert der Hefezopf im Licht der Sonne. Es ist vier Uhr. Dezembernachmittag. Die Fotos hängen in ihrem Arbeitszimmer. Wir könnten sie uns dann gleich mal ansehen. Es seien Fotos von Gesichtern. Ich habe mich in den letzten Wochen ein bisschen umgesehen, sagt sie. In Paris, im Louvre, in der Metro, und in München in der Glyptothek und auf der Theatinerstrasse, sagt Emilia. Aber jetzt lass uns erstmal Tee trinken und den Zopf verspeisen. Über ihr Gesicht gleitet ein Strahlen. Alles an ihr lacht. Ich freue mich
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