Die Verfolgerin - Roman
sagt er. Er hält meine Karte in der Hand. Lisa wacht auf. Er zeigt sie Lisa und fragt, ob sie von ihr sei. Wer weiss, sagt Lisa. Sie blinzelt ihn an und lacht wieder ihr Herzlachen. Der Ehemann liest, zieht die Stirn hoch, dann die Augenbrauen zusammen, sagt: So, so, und steckt die Karte zu den anderen zurück. Ich denke, dass er sie nicht ernst nehmen und den Termin vergessen könnte.
19
Die Goldmann will, dass ich ein Interview führe. Zur Vorbesprechung des Interviews will sie, dass ich zu ihr komme. Ein Telefonat genüge da nicht. Wenn man aus der Stadt in Richtung Süden fährt, kann man die Alpen sehen. Nicht heute. Heute sind sie in Schneewolken eingehüllt. Im Voralpenland regnet es. Bindfäden, wie man sagt. Ich fahre zu schnell in den Hof. Mit Absicht. Damit der Matsch aus den Pfützen hoch aufspritzt. Ich finde, das sieht dramatisch aus. Ich bin in so einer Stimmung. Die Musik von meiner CD, die ich im Auto höre, vergrössert meine Stimmung, dehnt sie aus. Ich höre elektronische Musik. Die Titel heissen ›Ein Morgen am Tegernsee‹, ›Zugspitz‹, ›Seele des Walchensees‹. Als ich klingle, stupst der Hund Toto mit seiner Schnauze die Haustür auf. Ich reiche ihm meine Hand zum Beschnuppern. Ich hoffe, dass die Goldmann fragt, ob ich einen Kaffee möchte. Sie ist in Schwarz gekleidet, trägt einen schwarzen Rollkragenpullover und eine schwarze Hose. Sie sieht blass aus und dadurch zerbrechlich. Sie fragt nach Kaffee. Ich sage Latte Macchiato, und dass es bei ihr den besten in der ganzen Gegend gebe, da komme kein noch so gutes Kaffeehaus mit. Ich sage ihr das, weil sie so schön und zerbrechlich aussieht. Die Goldmann lächelt. Sie lächelt wie jemand, der es nicht gewohnt ist zu lächeln. Antje bringt den Latte Macchiato in einem Glas. Der Stiel des Löffels, der im Glas steht, ist ein Trinkhalm aus Edelstahl. Er gefällt mir nicht. Ich sage: Raffiniert gemacht. Die Goldmann lächelt wieder. Das gefällt mir auch nicht. Sie sagt, dass sie mich bestellt hat, weil sie sich für die Festschrift des kommunalen Abfallunternehmens etwas Besonderes ausgedacht hat. Ein Interview als Vorwort. Das sei mal was anderes. Sie sagt, dass wir uns aber beeilen müssen, bevor es zu spät ist. Ich frage warum. Der Bürgermeister, mit dem ich das Interview führen solle, sei schwer krank und es könnte schnell gehen. Ich sage, dass ich ihn erst kürzlich bei einem Empfang für den Bischof gesehen hätte und er gut ausgesehen habe. Er erzählte mir, dass die Therapie angeschlagen hat. Alle durchlaufen diese Phase der Hoffnung, aber letztlich schafft es doch keiner, sagt sie. Wissen Sie, ein jeder bildet sich ein, dass es bei ihm nicht so schlimm ist, dass es für ihn ein Wunder gibt. Es steht auch so viel in den Medien über solche Fälle. Aber in Wahrheit gibt es das so gut wie gar nicht. In Wahrheit geht es dann ganz schnell, meist doch irgendwie unerwartet, auch wenn jeder vom tödlichen Verlauf weiss. Wissen Sie: Das habe ich schon oft erlebt. Und dann geht es schnell. Wenn die Broschüre erscheint, könnte er schon nicht mehr sein, und wir sind dann die Letzten, die ein Interview von ihm haben, sagt sie. Wir sitzen im Esszimmer der Goldmann an einem quadratischen Esstisch. Tagsüber ist es das Besprechungszimmer für Kunden und früh und abends das Esszimmer für die Goldmann und ihre Tochter. Das Esszimmer ist mit dunklem Holz getäfelt und hat viele kleine quadratische Fenster. Sie wiederholt mehrmals, in verschiedenen Varianten, was sie eben gesagt hat, und verwendet jedes Mal die Bezeichnung ›in Wahrheit‹. Dann erzählt sie von ihrem Lieblingsfotografen: Wissen Sie noch? Bei Henry von Frankenberg ist es damals auch schnell gegangen. Er sei zwar schon über achtzig gewesen, habe aber fitter gewirkt als mancher Fünfzigjährige. Alle hätten gelächelt, als sie gesagt habe, dass wir den Kalender von ihm fotografieren liessen, es könnte seine letzte fotografische Arbeit sein und damit besonders wertvoll. Und dann ging es schnell. Einen Monat nach der Produktion sei er tot gewesen und seine letzten Fotografien im Kalender erschienen. Ich kenne die Geschichte und denke, dass er vielleicht gestorben ist, weil die Goldmann ihre Gedanken in die Welt entlassen hat. Sie wiederholt auch diese Geschichte mehrmals, baut Varianten ein und beginnt jedes Mal mit »Wissen Sie«. Ich sage ihr, dass ich den Bürgermeister anrufe. Gleich am nächsten Tag. Ich sage ihr das ebenfalls mehrmals, weil sie mir nicht antwortet
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