Die Verfolgerin - Roman
Odeonsplatz zurück, in dem ich sitze. Es holt mich zurück zu Celine, die mit dem Mann den Abend verbringt. Ich stelle mir vor, wie er zu Celine sagt, dass er gern ihre beiden schlagenden Herzen auf dem Monitor sehen würde. Ich stelle mir vor, wie er Celine das Verfahren erklärt. Das Wort Magnetresonanztomografie hüpft auf seiner Zunge. Celine sitzt mit geradem Rücken vor ihm, spielt mit dem Etikett der Champagnerflasche. Wie heisst Celine richtig? Was bedeutet richtig heissen? Sie gibt sich einen Namen für eine Rolle, die sie spielt. Und sie hat einen Namen, für die Person, die sie ist, wenn sie die Rolle nicht spielt. Welche Person ist sie dann? Dafür, dass sie ihm aufmerksam zuhört und später mit ihm eine erotische Nacht erlebt, bekommt sie 60 Euro in der Stunde. Komm gehen wir, wird der Ehemann zu später Stunde sagen. Er hat dann bereits genug getrunken. Lass mich sehen, ob dein Busen hält, was er verspricht, und was es sonst noch zur Nachspeise gibt.
Ich bin mit meinen Vorstellungen der Zeit voraus. Es ist 21 Uhr. Die Oper ist noch nicht aus. Vor achtzehn Jahren sind wir nach dem bayerischen Essen in sein Zimmer, das er in einer Wohngemeinschaft in Schwabing bewohnte, gefahren. Komm, bleib doch die Nacht, hatte er gesagt. Wir haben uns geküsst, auf seinem Sofa uns umarmt, überall berührt, dann bin ich von seinem Sofa aufgestanden und gegangen. Er war mir fremd noch, damals, nach dreizehn Stunden. Ich stelle mir vor, wie der Ehemann, kaum ist er mit Celine im Appartement, lüstern röhrt. Wie er die Brüste von Celine umfasst, wie er sagt: Komm Baby, zieh dich aus vor mir, zeig was du kannst. Komm, reit auf mir. Der Ehemann mag das. Auch wenn man seinen Penis in den Mund nimmt. Ich weiss nicht, ob Celine das macht. Wegen der bayerischen Hygieneverordnung darf sie es eigentlich nicht. Nicht ohne dass der Penis in Latex gehüllt ist.
Noch eine halbe Stunde ›Königskinder‹, dann steigen Celine und der Ehemann in das Taxi. Ich warte nicht, bis die Oper aus ist. Ich fahre mit der U-Bahn. Die Japaner haben das Café verlassen. Es steht niemand an der Theke. Ich kaufe mir noch einen Kaffeebecher mit der Aufschrift »München – Stadt mit Herz«, bevor ich das Café verlasse.
22
Der Requisiteur überreicht mir eine Dose mit Platinkügelchen. Aus Aluminium, wie es sie für Pfefferminzpastillen gibt. Ich öffne die Dose. Die Kügelchen sind in Zellstoff gewickelt. Zweihundert Stück, sagt er. Der Maschinenschlosser habe extra eine Form anfertigen müssen und da sei es letztlich egal gewesen, wie viele Kügelchen er giesst. Ein Gramm Platin koste 41 Dollar. Verarbeitet seien etwa fünf Gramm. Zwei Nordic-Walking-Stöcke liegen auf der Werkbank. Zwei schwarze. Marco beobachtet mich, als ich nach der Zahl suche. Er hat sie so hingelegt, dass die 64 nicht zu sehen ist. Ich muss sie in die Hand nehmen. Auf dem ersten finde ich keine Zahl. Die ist auf dem zweiten. In Gold, nicht in Silber. Marco fragt, ob ich einen Espresso trinken will. Ich stimme zu. Er verschwindet im Gang, in dem sich die Küchenzeile befindet. Ich frage Marco, wie viel Milliliter Flüssigkeit ein Kügelchen fasst. Das kommt darauf an, welche Flüssigkeit. Ich nehme an, du füllst nicht gerade Rizin ein, sagt er. Ich müsse wissen, wie viel Kügelchen ich für eine tödliche Dosis brauche, damit es authentisch wirke, erwidere ich. Er könne das Wort authentisch nicht mehr hören, sagt Marco. Er kommt mit zwei Tassen Espresso zurück, stellt sie auf die Werkbank. Wir sitzen auf Schemeln. Er lebe davon, dass Filmleute sehr viel Wert darauf legen, die Wirklichkeit oder das, was sie dafür halten, eins zu eins abzubilden. Offensichtlich sei die Hälfte der Menschheit damit beschäftigt das Leben in Geschichten abzubilden. Die andere Hälfte der Menschheit konsumiere die Geschichten, um einen Teil ihrer Lebenszeit aus ihrem Alltag zu entfliehen. Ist offensichtlich spannender als der eigene. Vor allem, wenn darin ganz nebenbei im Vorübergehen Menschen auf der Strasse Rizin injiziert bekommen. Und die Geschichtenerzähler? Die finden kaum noch Stoff für Geschichten auf der Strasse, weil alle schon aufgesammelt sind, von all den Geschichtenerzählern, die unterwegs sind. Und die, deren Leben Geschichten schreiben könnte, in deren Leben passiert nichts, weil sie ihre Zeit damit verbringen, Geschichten anzuschauen. Am Ende müssen dann die Geschichtenerzähler Geschichten über das Geschichtenerzählen machen und so weiter. Ich frage ihn, ob
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