Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verfolgerin - Roman

Die Verfolgerin - Roman

Titel: Die Verfolgerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: edition 8
Vom Netzwerk:
er noch einen Espresso hat. Marco verschwindet mit meiner leeren Tasse. Als er zurückkommt, sagt er, dass er beinahe vergessen hätte mir zu sagen, dass mein Besuch bei ihm aufgezeichnet wird. Mit der Webcam. Er zeigt auf den oberen Rand des Monitors seines Laptops, der auf der Werkbank steht. Der sieht aus, als wäre er nicht angeschaltet. Energiesparmodus, sagt Marco. Und: Till habe ihn gebeten, die Cam anzuschalten. Er wolle eine Reportage über Geisteswissenschaftler drehen, da würdest du wohl eine Rolle spielen. Du wüsstest Bescheid. Ich stelle mir vor, wie Till die Aufnahme verfolgt, wie er uns an der Werkbank sitzen sieht, Kaffee trinken, über den Preis von Platin redend und die Menge von Rizin, die die Kügelchen fassen können, und wie er Marcos Finger auf die Webcam zukommen sieht.

23
    Auf dem Rückweg von Marco, dem Requisiteur, habe ich mir das Service namens Maria gekauft. Es ist bereits seit 1917 auf dem Markt. Neunzehnhundertsiebzehn ist eine schöne Zahl. Eine Zahl, die zwei Primzahlen enthält. Neunzehnhundertsiebzehn war die Welt noch in Ordnung, denke ich und weiss, dass es nicht stimmt. 1917 war das Jahr der Februar- und Oktoberrevolution in Russland, das Ende der Zarenherrschaft. 1917 war das Jahr, in dem die Vereinigten Staaten von Amerika in den 1. Weltkrieg eintraten, es war das Jahr der Kriege und Umwälzung und das Jahr, als das Geschirr Maria viele gedeckte Tafeln in bürgerlichen Haushalten zierte, in denen die Dienerschaft in weissen gestärkten Schürzen mit Spitzenborte Suppe aus der Terrine schöpfte und den am Tisch sitzenden Herrschaften servierte. Emilia hat das Geschirr Maria von ihrer Grossmutter geerbt, vermutlich hat die Familie es 1917 erworben. Wenn Emilia eine Scheibe Hefezopf von ihrem breiten Messer mit dem Daumen auf den Kuchenteller des Geschirrs Maria schiebt, dann ist das eine Geste von grosser Anmut, wenngleich Emilia auf diese Geste nicht achtet, sondern erzählt und beiläufig mit ihrem Finger, an dem Krümel vom Hefezopf kleben, eine rote Locke aus dem Gesicht streift. Wenn Emilia das Geschirr berührt, dann ist es, als stamme sie selbst aus dieser Zeit: eine ältere Dame, alleinstehend, impulsiv, weitgereist und unerschrocken. Emilia lässt, wenn sie das Geschirr Maria durch ihre Hände gleiten lässt, die 1920er Jahre aufleben. Ich kaufe mir mit dem Geschirr Maria etwas von Emilia, den Primzahlen und von 1917.
    Die Verkäuferin in der Porzellanabteilung im Kaufhaus hatte nicht gleich verstanden und wollte mir mehrere Service zur Auswahl anbieten. Hier haben wir noch ein schönes. Was ganz Modernes. Von Vill und Rose. Und das hier ist ganz fein. Es wird gern gekauft, weil das Porzellan so dünn ist, fast schon durchsichtig. Hier schauen Sie mal. Sie hob einen Teller gegen das Licht. Das ist von Luci und Luci, sagte sie. Ich bedankte mich und sagte, dass ich gekommen sei, um das Service Maria zu kaufen. Und zwar im Sonderangebot, so wie es die Porzellanmanufaktur Rosengarten gerade offeriere. Im Gesicht der Verkäuferin erlosch die Begeisterung. Sie wickelte die Tasse und die beiden Teller vom Geschirr Maria, die sie ausgepackt hatte, um sie mir zu zeigen, in das Seidenpapier und steckte sie zurück in den Karton zu den anderen. Dann führte sie mich zur Kasse. Sie war von magerer Statur. Die Haut braungebrannt, ledrig. Die Haare weissblond, und um ihre Lippen spielte Spöttisches. Ich fragte sie, ob sie mir ein Taxi bestellen könne. Ja, gern, sagte sie.
    Der Taxifahrer schleppt den Karton mit ›Maria‹ zur Haustür. Ich öffne sie ihm. Während er die Kiste in den Hausflur schiebt, schaue ich die Strasse hinunter. Es schneit. Schwere Flocken. Auf der Strasse liegt eine dicke Matschschicht, die patschende Geräusche erzeugt, wenn ein Auto darüberfährt. Der Taxifahrer zieht den Kopf unter den Flocken ein. Der Schnee schmilzt auf seiner Stirn, rinnt als Wasser über sein Gesicht. Er schaut mich an. Alles an ihm ist rund, seine Augen, seine Wangen, seine Lippen. Ich möchte über sein Gesicht streichen. Ich sage danke und gebe ihm fünf Euro. Er sagt, schöne Weihnachtsfeiertage. Ich sage, er solle wiederkommen. Im neuen Jahr, zum Frühstück mit frischen Semmeln. Dann könne er das Service, das er gerade hereingeschleppt hat, sehen. Er streicht über meinen rechten Oberarm und sagt ja, er komme gern, wenn er Zeit habe. Aus der Reihe der parkenden Autos fahren welche fort, andere blinken, um in die Lücken zu scheren. Die Schneeflocken werden dichter. Ich

Weitere Kostenlose Bücher