Die Verfolgerin - Roman
zum Auto. Ich stand in der Diele mit eingezogenen Schultern und hoffte, dass er etwas zu mir sagt, dass er den Arm auf meine Schulter legt und irgendetwas Tröstendes sagt, am letzten Tag im Jahr. Das Gesicht des Mannes war stattdessen inzwischen versteinert. Er lief an mir vorbei ohne mich zu sehen, obwohl er mich sah. Dann trug er die letzte Umzugskiste aus dem Haus, stieg in sein Auto und fuhr ohne einen Blick für mich und einen Gruss davon. Die Haustür hatte er offen gelassen. In die offene Tür bin ich getreten und habe ihm hinterher gesehen, bis er über die Kreuzung in die Hauptstrasse einbog wie vorher die beiden Jungs. Jetzt bin ich mit meinem azurblauen Twingo und dem Service Maria von 1917 allein, habe ich gedacht und geschmunzelt. Das Schmunzeln blieb nicht lange in meinem Gesicht, verzog sich stattdessen zu einer Grimasse, und Tränen liefen und ich hörte mich schluchzen. Das fühlte sich alles heiss an und irgendwie so, als taute ich innerlich auf. Es ist Winter, Silvester, und am Neujahrstag sollten es Minus 20 Grad werden. Keine Jahreszeit, um aufzutauen. Ich habe mich noch einmal an den Esstisch gesetzt. Er war immer noch gedeckt. Ich habe mir den Rest Kaffee eingeschenkt und eine Orange geschält. Während ich sie esse, ruft Emilia an. Sie sei wieder aus dem Krankenhaus zurück. Ich wusste nicht, dass sie im Krankenhaus war. Sie sagt: Nein, das hast du nicht wissen können. Ich bin gestürzt. Von der Galerie. Die Lampe, ich wollte den Staub endlich mal herunter haben. Ich wollte nicht, dass meine Putzfrau stürzt. Es war schlimm. Aus dem ersten Stock bis runter in die Diele auf die Fliesen. Ich hätte tot sein können. Der linke Arm war zertrümmert. Drei Operationen, stell dir vor. Es waren nicht die letzten. Emilia zählt auf, was alles im Haus liegen bleibt. Die Bücher, die sie vom Speicher in die Bücherregale in der neuen Bibliothek im ersten Stock einsortieren wollte, die Treppe, die sie mit einer Holzlasur einlassen wollte, und die Küche sehe aus. Aber deshalb rufe sie gar nicht an, das wolle sie mir nicht erzählen. Sie sei bei meinem Ehemann gewesen. Sie sagt, ich wisse schon, wegen ihrer Herzoperation zur Nachsorge, das habe sie, wenn sie ohnehin schon in der Klinik war, gleich mitmachen lassen. Er sehe nicht gut aus. Er arbeite wohl zu viel, sagt sie. Ich sage, dass er eben gegangen sei. Ausgezogen. Emilia fragt, warum und was denn passiert sei. Ich sage, dass sie ihn fragen müsse. Er sei gegangen. Ach so, sagt Emilia. Sie will wissen, was meine Recherche macht. Ich komme gut voran, sage ich, und dass das mit dem Rizin geklappt habe, in Zürich hätte ich welches bekommen, und dass ich nun alles habe, um einen Stock zu präparieren. Ich erkläre ihr, dass ich mich für einen Nordic-Walking- Stock entschieden hätte, statt des Regenschirms. Emilia kichert. Du bist sehr akkurat in deiner Recherche. Wahrscheinlich würde dir niemand tatsächlich Rizin verkaufen oder einen Stock präparieren, aber für deine Zwecke genügt es ja, dass die Leute dir sagen, sie würden es tun, es wäre kein Problem. Da bekommst du ein Gespür für die Praxis. Die ist immer anders als die Theorie. Ich stimme ihr zu. Sie wolle weiter informiert werden. Ich verspreche ihr das.
25
Kurz vor zehn Uhr am Morgen. Es ist Montag, 2. Januar. Die Äste der Bäume, die Luft, das Holz der Gartenzäune, alles ist froststarr. Die Feuchtigkeit in meinem Atem gefriert, das Krächzen der Krähen schneidet durch froststarre Luft. Frischer Schnee liegt über dem schmutzigen, zwei Wochen alten Eis der Gehwege im Tierpark. Am Eingang ist ein grosses Schild aufgestellt. »Geöffnet« steht da drauf.
Gestern hätte ich zu Till gehen sollen. In sein Studio. Ich bin zu Hause geblieben. Sass am Kamin im Esszimmer. Im Pyjama. Ich füllte Rizin in die Platinkügelchen. Ich schüttete das Rizin aus einem der Fläschchen in eine Müslischale. Dazu gab ich Platinkügelchen. Etwa fünfzig. Ich wartete eine Weile, bis sich die Kügelchen mit Rizin füllten. Ich beobachtete die Flüssigkeit. Denn wenn die Kügelchen tatsächlich hohl waren, dann müssten winzige Luftbläschen aufsteigen. Ich schaute durch eine Lupe und konnte welche erkennen. Mit einer Pinzette holte ich ein Platinkügelchen nach dem anderen heraus. Mit einer Pipette träufelte ich Zuckerwasser auf die Öffnung in den Kügelchen und legte sie in einen Wattebausch zum Trocknen. Nach fünf Kügelchen pausierte ich, sah ins Feuer im Kamin und verfolgte meinen Atem. Ich
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