Die Verfolgerin - Roman
hörte bei der Arbeit Musik von Gabrielle Roth and the Mirrors. Gleichmässige Rhythmen. Sie nehmen den Herzschlag auf. Durchdringen das Blut, das Gehirn. Gleiten durch die neuronalen Netze. Bestimmen das Denken. Das Fühlen. Unerbittlich. Ich liess die CD immer wieder durchlaufen. Fünf Mal. Dann war ich fertig. Füllte das restliche Rizin wieder in das Fläschchen, spülte die Müslischale aus, lies viel Wasser hinterherlaufen, damit das Gift im Wasserkreislauf verdünnt wird. Ich selbst trug Gummihandschuhe bei der Arbeit.
Hinter den Scheiben des Kassenhäuschens, dessen Luke geschlossen ist, sitzt eine Frau. Ich kann sie durch die mit Tierbildern zugeklebten Scheiben sehen, weil sie sich bewegt. Sie telefoniert. Sie schiebt, während sie weitertelefoniert, die Luke auf, um mir die Eintrittskarte und Wechselgeld zu geben. Sie schaut kurz auf, mir in die Augen. Ihre sind dunkelbraun, dann ist sie wieder bei der Stimme am Telefon, lacht schrill und glucksend in den Hörer. Die Frau ist sehr dick, sodass ich ihren Hals nicht sehen kann. Flamingos stehen im Wasser. Ihr Gefieder leuchtet lachsfarben und sie schnattern, als lähme sie kein Frost. Seit zwei Wochen schon sind die Bäume, die Wege in Schnee und Eis erstarrt. Flaumiger weicher neuer Schnee liegt darüber. Ich will zu den Schlangen. Die Schlangen sind im Aquarium. Das Aquarium ist gleich neben dem Affenhaus. Das Affenhaus ist gesperrt wegen Bauarbeiten. Vor dem Haus, welches das Aquarium sein soll, stehen Affenplastiken, und im Haus turnen Affen herum. Auf der Tafel vor der Glasscheibe befinden sich die Abbildungen eines menschlichen Gehirns und das eines Schimpansen. Ich bin verwirrt, weil ich die Schlangen nicht finden kann. Die sind ein Stockwerk tiefer, sagt ein Mann.
Baumpython, Gabunviper, Lanzenotter, Speikobra, Klapperschlange, mexikanische Mokassinotter. Die Schlangen sind in den Fels-, Dschungel- und Steppenlandschaften hinter den Fensterscheiben verborgen. Man muss lange hinschauen, um sie sehen zu können. Sie haben die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen. Sie bewegen sich nicht. Ihre Haut sieht aus wie das verwelkte Laub am Boden, wie das frische tropfnasse Grün der Schlingpflanzen, wie das Grau der Felsvorsprünge. Ihre Augen sind geöffnet. Völlig regungslos. Sie bemerken mich nicht. Ich gehe vor dem Fenster auf und ab, so dass mein Schatten auf sie fällt. Kein Zucken, nichts. Als wäre ich nicht da. Der Kopf der Kupferkopfschlange liegt auf einem Stein. Fast nicht von dem Ocker des Steins zu unterschieden. Als sie mich sieht, zieht sie den Kopf weg. Ich versuche es später noch einmal. Ihr Kopf liegt wieder auf der gleichen Stelle wie vorher. Sie zieht ihn nicht noch einmal weg. Die Gabunviper liegt im Laub. Ist gescheckt wie das Laub und dick. Eine kräftige Schlange. Ihre Augen sind geöffnet und starr. Wie die Augen eines toten Wesens. Sie hat hellblaue Wasseraugen. Wie der Mann. Ihr Gesicht ist blass. »Dies Erdenleben, womit soll ich’s vergleichen? Wie wenn von Booten, früh hinausgerudert, keine Spur mehr zurückbleibt.« Das steht in Grossbuchstaben an der Wand im Schlangenraum. Der Name des Verfassers: Kakuzo Okura.
Ich erhalte eine SMS. Vom älteren Sohn. Er wünscht mir viel Gutes fürs neue Jahr. Ich simse zurück, dass er ein toller Junge ist und ich stolz auf ihn bin. Ich schicke die SMS auch an den Jüngeren. Ich denke an einen Film, den ich vor einiger Zeit gesehen hatte. Wie er heisst, ist mir entfallen. Nur an eine Szene kann ich mich erinnern: Eine neunzigjährige Frau hat sich mit folgenden Worten von ihren Söhnen am Sterbebett verabschiedet: Ihr seid tolle Jungs. Das Leben mit euch war schön.
Ich solle auf den Bruder aufpassen. Er sei zu gutmütig. Verausgabe sich für andere. Er sei wie sie, hatte meine Mutter zu mir gesagt, ein paar Tage bevor sie starb. Ich habe sie dann nicht mehr besucht, weil ich sie nicht sterben sehen wollte. Seitdem träume ich, dass sie im Sterben liegt.
Wenn ich sterbe, werde ich meinen Kindern sagen, was die Neunzigjährige im Film ihren Söhnen sagte.
Ich bin auf dem Eis gerutscht, als ich aus dem Dschungelhaus kam. Dem jungen Mann, der mit offenem schwarzem Wollmantel, darunter einen schwarzen Rollkragenpullover und eine schwarze Hose, mir trittsicher entgegenkam, zog es, als er auf meiner Höhe war, ebenfalls die Füsse weg. Er balancierte sein Missgeschick aus, was aussah, als tanze er auf dem Eis und wisse nur nicht, ob es ein Walzer wird, ein Tango oder Freestyle. Er fiel
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