Die Verfolgerin - Roman
tagtäglich auf dem Tisch habe. Andererseits hafte Toten etwas Heiliges an. Sie habe schon fast das Gefühl, sie versündige sich, wenn sie das hier erzähle. Lisa lacht. Ein warmes Lachen, und ich frage mich wieder, warum es ein warmes Lachen ist. Wegen dem goldenen Glanz auf ihrem Haar und ihrer Haut und den Lachfalten. Alles an ihr ist Lachen, und Lachen macht warm. Nicht jedes.
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Der Mann ist in meinem Arbeitszimmer, als ich komme. Er blickt auf. Erschrocken. Er fragt mich, was ich da mache. Er meint die Fähnchen. Das sehe aus wie bei der Polizei. Ob ich da meine Opfer eintrage. Auf dem Tisch liegen rote, violette, orange, grüne, blaue und schwarze Fähnchen. Was für Opfer, frage ich den Mann. Solche wie mich, meint er. Solche seien es nicht, sage ich. Was für welche dann? Er fragt das vorwurfsvoll. Ich blicke in seine Augen. Die sind eisgrau. Ich kann nichts sehen in ihnen. Ich weiss nicht, was er mir vorwirft, denke ich weiter. Ich sage ihm, welche es sind. Keine Opfer. Orte, an denen ich Menschen begegne, die in ihren Gesichtern keinerlei Empfindungen zeigen. Deren Gesichter leer sind.
Solche gibt es nicht, sagt er. Deshalb sei er auch nicht gekommen. Er wolle seine restlichen Sachen holen und mir Lebewohl sagen. Lebe wohl. Ich weiss nicht, was das für mich heisst. Er geht in den Keller. Ich höre, wie er Kisten über den Boden zieht, hochträgt, wieder hinuntergeht. Ich stecke ein violettes Fähnchen auf die Karte. Als er zurückkommt, fragt er, ob ich wieder einem solchen Menschen begegnet bin und warum ich eine andere Farbe nehme. Ich sage, nein. Diesmal kann ich im Gesicht etwas lesen. Warum markierst du dann die Stelle auf dem Stadtplan? Du müsstest dann tausende Fähnchen im Stadtplan stecken haben, denn bei den meisten Menschen, wenn nicht allen, zeigen sich Empfindungen im Gesicht. Ich sage, dass all diese Menschen tot sind. Bis auf den, der für das violette Fähnchen steht. Das sei die Verbindung zu ihnen. Der kleinste gemeinsame Nenner.
Wieso gehst du so mit mir um? Wieso erzählst du so einen Quatsch, will der Ehemann wissen. Ich sage, dass ich nicht weiss, was er meint.
Ein leises Pling. Er zieht sein Handy aus der Hosentasche, blickt darauf und sagt, dass es eigentlich auch egal sei. Ich reiche ihm ein Glas Rotwein. Es ist kein Rizin drin. Ich könnte welches hineinträufeln. Ich könnte als Verfolgerin einen anderen Weg einschlagen. Ich könnte Menschen, die mich zu dem machen, was ich bin, mit Rizin aus dem Weg räumen. Wenn man ein Haus hat und allein in dem Haus wohnt, ist das einfach. Der Mann sagt: Nun gut. Stossen wir an, ein letztes Mal. Ich frage nicht, worauf er anstossen will. Ich schaue auf den Stadtplan und frage mich, welche Farben ich für die anderen nehmen würde. Für Morde mit Motiv. Der Stadtplan würde wichtig aussehen mit so vielen Fähnchen in so vielen Farben. Ein System, das es zu enträtseln gilt. Ich will jetzt allein sein. Ich sage ihm, dass er gehen soll, dass ich allein sein wolle. Deshalb sei er gekommen, sagt er. Ein letztes Mal. Er komme nicht wieder, und am liebsten wäre ihm, er würde mich nie wieder sehen. Er würde mich nur noch als Mutter seiner Kinder betrachten und sonst aus seinem Leben streichen. Vielleicht hat er auch einen Plan an der Wand. Mit Fotos darauf. Alle durchgestrichen. Der Mann steht vor mir. Presst seine Lippen aufeinander, blickt mir in die Augen. Ich wende mich ab. Er soll gehen. Ich will diesen Blick von oben auf mich nicht.
Als er fort ist, öffne ich alle Fenster im Haus, hole den Putzeimer und wische alle Böden feucht, selbst die im Keller. Ich weiss, dass dies nicht reichen wird. Ich werde alle Möbel abholen lassen, bis auf den Esstisch, meinen Schreibtisch und das Zweimalzwei-Meter-Bett, die Wände weisseln und die Holzböden abschleifen und neu versiegeln lassen. Dann lasse ich neue Möbel kommen, neues Geschirr, neue Töpfe. Nur das Service Maria behalte ich. Ich stelle mir vor, wie der Container vor dem Haus steht und die Küchenschränke, die Sessel, das Sofa, das Käsefondue-Geschirr, alles, was uns begleitete, in den Container geworfen wird. In meiner Vorstellung tauchen die Geschichten auf, die unser Leben waren. Die Abende mit Freunden beim Käsefondue, das Lachen bei dem immer gleichen Witz, was passiert, wenn jemand sein Brotstückchen in den Käsesud fallen lässt. In den Sesseln sehe ich die Buben liegen mit Teddy im Arm und den letzten Abendgruss ansehend, den Mann auf dem Sofa liegend mit dickem Schal um
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