Die Verfolgerin - Roman
geparkt. Ich sage ihm, dass ich keine Zeit habe, heute noch arbeiten müsse und ihm gern ein anderes Mal bei einer Tasse Kaffee oder einem anderen Getränk mehr erzähle. Er sagt, ich solle einfach meiner Arbeit nachgehen und ihn nicht beachten. Ich möchte den Stock gegen ihn stossen. Kräftig. Ich darf mich nicht von meinem Vorhaben abbringen lassen, nur Menschen zu verfolgen, die ich nicht kenne. Ich konzentriere mich auf die Frau mit dem Lammfellmantel. In ein paar Jahren ist sie eine steinerne Frau, denke ich. Ich denke das, weil etwas an ihr mich an die steinerne Frau erinnert. Ich überlege, was es ist. Die glatte Haut, die Haltung. Von der Wirbelsäule aus wird sie versteinern. In ein paar Jahren. Erst ihr Skelett, der Nacken, das Becken, die Arme, die Beine, dann die Muskeln. Keine Bewegung mehr unter der trockener werdenden Haut. Sie wird zu einer steinernen Frau unter einem alten Lammfellmantel werden. Ich beschliesse sie jetzt zu verfolgen. Dazu muss ich Till loswerden. Die neue Herausforderung verstärkt meinen Entschluss. Ich schaue Till in die Augen. Er sagt, dass er an meiner Seite bleibt, gleich, was passiert. Die Frau im Lammfellmantel geht zur Tür. Eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher sagt: Nächster Halt: Ostbahnhof. In Fahrtrichtung rechts aussteigen. Es kann sein, dass ich die Frau im Lammfellmantel verliere, wenn ich zuerst Till abhängen muss. Ich durchdenke einen Weg, bei dem die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass ich sie verliere, aber bei dem ich garantiert Till los werde. Die SBahn hält. Rechts steigen die Menschen aus. Links ein. Ich warte. Kurz bevor die Türen schliessen, renne ich links durch die Tür. Ich renne zur Treppe, in die Unterführung, weiter zur anderen Treppe, von der die Frau im Lammfellmantel kommen muss. Sie kommt mir entgegen. Ich weiss nicht, ob Till hinter mir ist. Ich laufe noch ein Stück entgegen der Gehrichtung der Frau im Lammfellmantel, drehe mich dann um und renne der Frau im Lammfellmantel hinterher. Es sieht aus, als eile ich auf einen anderen Bahnsteig. Ich habe den Stock in der Hand. Ich renne an der Frau im Lammfellmantel vorbei, stosse sie mit der Spitze des Stockes am Arm, sage »Excuse me«, eile an allen anderen Bahnsteigaufgängen vorbei auf den Bahnhofsvorplatz auf ein Taxi zu, steige ein und rufe dem Fahrer einen Ortsnamen zu. Ein Ort ausserhalb der Stadt. Der Ort liegt auf einem Keltenhügel, ein Ort mit einer Kirche, einem Schulhaus und einem Landhotel. In Hechenberg beim Moarwirt kann man auf einer Bank an einem Kachelofen sitzen, neben einem die Perserkatze des Hauses und zu Füssen der Bernhardiner des Kochs. Den Ort hat mir Emilia gezeigt, als sie für ein Wochenende zu Hause weilte, nach ihrer Herzoperation. Ich brauche diesen Ort mit der Perserkatze und dem Bernhardiner jetzt, den Klang des Glockentones der Kirche, der über den Keltenhügel fliegt, über die Wiesen, in die Berge. Ich wähle die Nummer des Ehemannes und drücke schnell die Beenden-Taste. Ich wähle die Nummer noch einmal. Es geht jetzt schlecht, sagt der Mann. Weil ich nichts sage, legt er nicht gleich auf, sondern ruft: Hallo, Jossi? Und nach einigen Sekunden: Ist alles in Ordnung? Ich drücke nicht die Beenden-Taste, sondern stecke das Phone in die Schutzhülle und lasse es in meine Tasche sinken.
Ich bemerke, dass ich diesmal gar nicht an die Tat denke. Ich habe einfach im Vorübergehen eine Frau mit meinem Stock gestossen. Das ist alles.
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An der Wand hängt ein Stadtplan. Auf dem stecken rote und blaue Fähnchen in der Nähe von U- oder S-Bahnstationen. Ich will die Tatorte sichtbar machen. Siebzehn Tatorte sind es, an denen ich Menschen verfolgte und mit dem Walking-Stock berührte. Neun rote Fähnchen. Acht blaue. Neun Frauen und acht Männer. Die Wand mit dem Stadtplan befindet sich in meinem Arbeitszimmer. Zwei Lichtstreifen zittern darüber. Es ist die Nachmittagssonne. Die Fenster sind geöffnet. Kinderstimmen sind aus der Ferne zu hören. Es riecht nach Erde. Das erste Mal in diesem Jahr. Es ist Mitte März. Ich verschaffe mir einen Überblick über die Menschen, die ich verfolgt habe. So wie sich die Polizei mit Fähnchen auf einer Landkarte einen Überblick verschafft und hofft, Muster zu erkennen. Handlungsmuster. Die Täterin setzt die Injektion in U-Bahn- oder S-Bahn-Nähe an Orten, an denen Gedränge herrscht, und an Orten, an denen meist nur ein oder zwei oder zeitweise auch gar kein Mensch entlanggeht, könnte ein Kommissar oder eine Kommissarin
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