Die Verfolgerin - Roman
mutmassen. Ich weiss nicht, ob die Injektion in allen Fällen tatsächlich tödlich war. Das hängt davon ab, ob ich als Verfolgerin getroffen und wie viel ich von der Flüssigkeit injiziert habe. Ich habe mich bemüht und ein jedes Mal kräftig gedrückt. Vielleicht haben zwei nicht zum Tod geführt oder auch fünf. Vielleicht auch zehn. Zehn nicht, das wäre zu viel. Dann blieben sieben Getötete. Keine Schlagzeile, die um die Welt gehen würde, oder? Ich überlege, ob ich mir ein Steak zum Abendessen bereite. Etwas Gemüse dazu. Mais. Bohnen. Ich muss etwas essen, das mich schwer macht. Kann sein, dass das Bedürfnis Fleisch zu essen typisch ist für Mörderinnen. Es ist besser, ich esse kein Fleisch. Es ist besser, ich trinke Wasser, laufe hinaus, die Strasse entlang aus der Stadt bis zu den Feldern und den Feldwegen, auf denen die Hundebesitzer ihre Hunde ausführen. Ich esse nichts Schweres, weil ich besser denken kann, wenn ich kein Fleisch esse. Was, wenn keiner bemerkt, was ich getan habe? Wenn keiner die Toten vermisst, wenn keiner die Todesursache erkennt? Serienmörder wollen, dass ihre Taten entdeckt werden, dass man darüber nachdenkt, um die Geschichte, die die Morde erzählen, zu entschlüsseln, um bekannt zu werden über die Medien, um einzugehen in die Kriminalgeschichte. Will ich als Verfolgerin das? Ich muss damit rechnen, dass keiner bemerkt, was ich getan habe. Es gibt Tote. Das ist sicher. Eine Dosis von 0,25 Milligramm ist tödlich. Es ist fad, wenn keiner bemerkt, dass Giftmorde entlang der U-Bahn- und S-Bahnhaltestellen geschehen. Fad. Geschmacklos könnte man sagen, läppisch auch. Fad ist französischen Ursprungs. Seitdem ich den Ursprung kenne, finde ich das Wort elegant.
Vielleicht sollte ich mein Vorgehen ändern. Jemandem Rizin ins Essen träufeln. Ich könnte dann ein schwarzes Fähnchen unter die blauen und roten stecken. Das schwarze Fähnchen würde nicht entlang den U- und S-Bahnhaltestellen stecken. Das Fähnchen würde ich in eine Strasse stecken, wie die Reitmoorstrasse. Unweit der Isar befindet sich ein französisches Restaurant in dieser Strasse. Der Mensch, der dort die tödliche Mahlzeit zu sich nahm, prangt als Schlagzeile in allen Tageszeitungen auf der ersten Seite. Prangen. Das Wort stammt aus dem 15. Jahrhundert. Prahlen, grosstun, durch Schönheit auszeichnen, heisst es.
35
Ich verfolge die Nachrichten in den Zeitungen. Dazu fahre ich ins Café Puck in die Türkenstrasse. Dort gibt es WLAN, kostenlos. Ich lese die Online-Ausgaben der Zeitungen. Lisa kommt auch ins Cafè Puck. Gegen elf Uhr. Das ist in einer Stunde. Ich habe den Termin mit ihr vereinbart, weil ich eine Auskunft brauche. Ich wähle einen Tisch unter dem Atelierfenster im hinteren Bereich des Cafés. Das Atelierfenster befindet sich an der Decke. Licht fällt von oben auf den Tisch, an dem ich sitze. Das ist das einzige Fenster in diesem Bereich des Cafés. Die Wände sind dunkel getäfelt. Es ist düster. Ich bestelle einen Cappuccino und ein Falafelsandwich. Ich weiss nicht, was Falafel ist. Ich überlege mir, wie viel Zeit ich habe, bis Lisa kommt. Vielleicht kommt Lisa erst in anderthalb Stunden. Sie kommt meist etwas später. Ich mache mir Notizen: Drei Tage dauert es, bis eine Dosis von 0,25 Milligramm Rizin zum Tode führt. Im Normalfall. Ich zähle die Tage in meinem Kalender. Ich frage mich, wann die Begegnung mit der Frau im Lammfellmantel war. Vielleicht Dienstag. Oder Montag. Ich gehe von Dienstag aus. Vielleicht ist sie dann am Donnerstag oder am Freitag vergangener Woche gestorben. Wenn der Arzt Herzversagen auf den Totenschein geschrieben hat, steht keine Meldung in der Zeitung. Wenn der Arzt von Gift ausgegangen ist, dann hat er die Polizei hinzugezogen. Selbstverschulden. Fremdverschulden. Schulden. Was heisst das? Was will man sagen, wenn man sagt: Du bist schuld? Vielleicht will man damit sagen: Du bist der Verursacher? Aber warum sagt man das dann nicht, sondern Du bist schuld? Wenn der Arzt Gift als Todesursache vermutet, dann steht es frühestens nach vier Tagen, das wäre am vergangenen Samstag gewesen, in der Zeitung. Heute ist Mittwoch. Vielleicht lebt die Frau im Lammfellmantel allein. Vielleicht vermisst sie niemand. Vielleicht findet man sie nach einem Jahr in ihrer Wohnung. Das sind die unbekannten Variablen in der Geschichte. Die kann ich nicht kalkulieren. Das muss ich aushalten. Ich kann auch nicht kalkulieren, wann die nächste Tat folgt. Das hängt davon ab, wann mir
Weitere Kostenlose Bücher