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Die Verfolgerin - Roman

Die Verfolgerin - Roman

Titel: Die Verfolgerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: edition 8
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wieder ein Mensch mit einem leeren Gesicht begegnet. Wie viele Menschen mit einem leeren Gesicht gibt es in dieser Stadt? Vielleicht zehn Prozent von 1,36 Millionen Menschen. Das sind 136’000. Vielleicht sind es ein Prozent. 13’600 Menschen. Vielleicht weniger. Die Bedienung bringt das Falafelsandwich auf einem Teller mit viel Salat. Sie fragt, ob ich noch etwas möchte. Sie trägt eine rote lange Leinenschürze über den Jeans. Sie pustet ihre schwarz gefärbten Haare aus der Stirn. Ihre Gesichtshaut wirkt blutleer. Ich will eine Cola. Sie notiert das. I’d like some Cola, please. Wir schauen uns in die Augen.
    Der Falafelteig fühlt sich im Mund an wie angefeuchtete Sägespäne.
    Ich lasse etwas vom Falafelsandwich und dem Salat auf dem Teller. Picke gelegentlich mit der Gabel nach einem Happen und gehe die Meldungen in den Online-Ausgaben der Tages- und Wochenzeitungen durch: »Gifttod durch Energiedrink«, »Tod in der Diskothek«, »Gewalttäter schiesst Polizist in den Kopf«, »31-Jähriger lag tot im Inn«, »Spaziergänger findet Leiche im Gebüsch«, »Verkohlte Leiche einer schwangeren Frau gefunden«, »19-Jähriger in S-Bahnhof erstochen«, »Bauer, der Eltern umbrachte, war angeblich psychisch krank«, »Mit einer Zwiebel ermordet«, »Im Streit Messer in die Brust gerammt«, »Norbert A. (32) hatte Killer angeheuert, die seine Frau töten sollten«.
    Die Hauptinformation in der Headline. Ich kann die Hauptinformationen kategorisieren. Eine Kategorie sind die Informationen über den Todes- und Fundort. Eine Kategorie sind Informationen über das Mordwerkzeug: Gift, Messer, Zwiebel, Munition. Dann könnte ich die Nachrichten zusammenfassen, die etwas über das Opfer aussagen: Polizist, das Alter der Opfer, das verwandschaftliche Verhältnis der Opfer, der Zustand des Opfers – schwanger. Und ich könnte Aussagen über die Täter zusammenfassen: Bauer, Gewalttäter. In diese Rubrik könnte ich alle offenen Fragen über die Täter auflisten. Ich könnte Aussagen über die Gesellschaft ableiten: Analysiert man die Nachrichten, dann kann man sagen, dass Morde überwiegend im öffentlichen Raum stattfinden. Ich trenne mir mit der Gabel ein Stück Falafel ab. Bei den Worten ›öffentlicher Raum‹ denke ich an das Rentnerehepaar, das sich auf einer Bank im Schlosspark das Leben genommen hat. Am helllichten Tag, schreibt die Zeitung. Helllicht. Licht ist hell. Was sagt helllicht mehr als hell oder licht? Ich beisse in das Falafelsandwich.
    Meine Morde stehen nicht als Nachricht in der Zeitung. Rätselhafte Rizinmorde – müsste darin stehen. Oder zumindest: Rätselhafter Rizinmord. Polizei schliesst Terrorhintergrund nicht aus. Der Terroraspekt käme mit meinen Morden als Aspekt dazu. Wäre dies eine neue Kategorie? Zunächst fiele dies in die Kategorie Mordwerkzeuge und in dieser sogar einfach nur unter Gift. Ich könnte die Kategorien Einzelmorde und Serienmorde erstellen. Das wäre in Ordnung. Und der von der Polizei angenommene Terrorhintergrund? Morde mit politischen Motiven. Ich morde als Verfolgerin und als solche ohne Motiv. Jeder soll das wissen. Ich morde deshalb ohne Motiv, weil ich für andere unsichtbar sein will. Auch der Mord soll unsichtbar sein. Das war meine Absicht. Warum suche ich dann jetzt nach Spuren meiner Morde in den Zeitungen? Wer mordet, möchte damit etwas sagen. Er tritt mit der Welt in Resonanz. Die Tat eines solchen Mörders ist jenseits der moralischen Ebene Kunst. Die Gesellschaft lässt es nicht zu, dass Morde die moralische Ebene verlassen, um als Kunst erörtert zu werden. Was ist es, wenn ich als Verfolgerin morde? Für niemanden sichtbar. Für niemanden beweisbar. Und dies dokumentiere. Kunst?

36
    Lisa ist da. Ich habe sie nicht kommen sehen. Sie steht neben mir. Sie atmet schnell. Ihr Gesicht ist rot. Sie sagt, dass sie noch schnell im Buchladen hinter der Uni gewesen sei. Dem englischen. Sie habe ein Buch gesucht »Experimental and Toxicologic Pathology«. Aber das hätten sie nicht gehabt. Lisa weist den Border Colli an, unter dem Tisch Platz zu nehmen. Sie sagt zu ihm, dass er brav sein solle. Dann zieht sie ihren Mantel aus, sucht einen Garderobenhaken, findet keinen und wirft den Mantel über den Stuhl. Lisa strahlt Wärme aus. Menschliche Wärme sagt man dazu. Ich will wie jedes Mal, wenn ich Lisa sehe, wissen, woran das liegt, suche in ihrem Gesicht. Ihre Haare glänzen golden. Sie spricht langsam, artikuliert die Worte deutlich, lacht. Das ist es. Sie

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