Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Verfuehrerin

Titel: Die Verfuehrerin
Autoren: Jude Deveraux
Vom Netzwerk:
noch schlimmer waren, als sie gedacht oder aus der Entfernung erkannt hatte. Die meisten waren zwar am Abheilen, aber die großen Striemen waren gestern wieder aufgebrochen. Sie mußten sehr, sehr weh tun, überlegte sie, holte tief Luft, öffnete ihre Sanitätskiste und holte eine Salbe heraus.
    »Das wird die Schmerzen lindern«, sagte sie leise und begann, behutsam die Salbe auf seiner Haut aufzutragen. Sein Rücken war breit und muskulös; aber da war nur Haut über den Muskeln und kein bißchen Fett. Es sah ganz danach aus, daß er zwar hart gearbeitet, aber sehr wenig gegessen hatte.
    Als sie merkte, daß er sich unter ihren Fingern entspannte, fragte sie: »Wie lange sind Sie im Gefängnis gewesen?«
    »Zwei Jahre«, antwortete er rasch und setzte dann flüsternd hinzu: »Verdammt!«
    »Mr. Tynan, ich bin Zeitungsreporterin, und das Beobachten gehört zu meinem Beruf. Ich wüßte keinen anderen Platz, wo ein Mann sonst noch bei dürftiger Verpflegung hart arbeiten muß und obendrein noch geschlagen wird- wenigstens nicht hier in Amerika.«
    »Und wenn es noch so einen Platz gäbe, würden Sie sich dort einsperren lassen, damit Sie anschließend darüber schreiben könnten, nicht wahr? Werde ich in Ihre nächste Geschichte eingehen? >Ich ritt mit einem entlaufenen Sträfling durch den Regenwald< oder so was ähnliches?«
    »Sind Sie tatsächlich entlaufen ? Ich hätte gedacht, mein Vater hat Sie irgendwie freigekauft.«
    Als er schwieg, wußte sie, daß sie der Wahrheit sehr nahe gekommen war. »Ich kenne meinen Vater sehr gut, müssen Sie wissen, Mr. Tynan. Wenn er will, daß mich jemand durch einen unpassierbaren Wald führt, würde er sich nicht mit der Antwort zufriedengeben, daß das unmöglich ist. Er würde der Frage nachgehen, wie es zu schaffen ist. Ich vermute, er hat erfahren, daß Sie den Regenwald schon einmal passiert haben, und dann spielte es für ihn keine Rolle mehr, ob Sie gerade auf dem Weg zum Galgen waren. Er besitzt genügend Geld und Macht, um jedes Seil durchzuhauen- selbst wenn es einem bereits um den Hals liegt.«
    »Er würde seine Tochter einem Mörder anvertrauen?« fragte Tynan und drehte den Kopf, um sie anzublicken.
    Sie schwieg einen Moment nachdenklich. »Nein, ich glaube nicht, daß er das tun würde. Ich glaube, daß meine Mutter und ich die einzigen Menschen auf der Welt waren, die er wirklich geliebt hat. Ich war mir nicht sicher, ob er sich nach dem Tod meiner Mutter wieder fangen würde; aber ich denke, er kam zu dem Schluß, er habe immer noch mich.«
    »Aber Sie sagten doch eben, daß er Sie der Obhut eines Verbrechers anvertraute - einem Menschen, den er vor dem Galgen gerettet hat.«
    Sie rieb vorsichtig die Salbe in seine Wunden. »Mr. Tynan, Sie müssen unschuldig sein. Sie haben völlig recht mit Ihrer Bemerkung, mein Vater hätte mich niemals einem Verbrecher anvertraut. Ja, natürlich, das ist die Lösung. Sie sind entweder unschuldig oder haben etwas getan, was nicht zu den Gewaltverbrechen zählt. Vielleicht ein Eheversprechen gebrochen.« Lächelnd fuhr sie fort, die Salbe auf seinem Rücken zu verreiben. Inzwischen verarztete sie ihn nicht nur, sondern massierte auch seine Muskeln.
    »Wie nahe bin ich bei der Wahrheit?« fragte sie. Als er abermals nicht antwortete, lachte sie und meinte: »Mr. Tynan, wir verraten uns immer durch Indizien, sosehr wir uns auch bemühen, die Wahrheit vor anderen geheimzuhalten. Ich bin sicher, Mr. Prescott ahnt nichts davon, daß Sie bei jeder Bewegung Schmerzen haben; aber wenn man seine Mitmenschen beobachtet, kann man ihnen so manche Wahrheit oft ansehen.«
    Sie fuhr fort, seinen Rücken einzureiben, und dann massierte sie ihm die Muskeln an den Armen, bis er völlig entspannt war. Sein Atem war tief und leicht, als würde er schlafen. In Chris regten sich alle Mutterinstinkte. Wie gern hätte sie diesen Mann mit nach Hause genommen, ihn gefüttert und zugesehen, daß er seine Ruhe bekam. Sie fragte sich, ob die Haushälterin ihres Vaters, Mrs. Sunberry, ihn kennengelernt hatte. Falls ja, war Chris bereit, jede Wette einzugehen, daß sie Tynan mochte.
    Lächelnd hob Chris eine von Tys Händen an und begann auch diese zu massieren, wobei sie die roten Stellen am Handgelenk mied.
    »Da bin ich nicht verletzt«, murmelte er schläfrig; machte aber keine Anstalten, ihr die Hand wieder zu entziehen.
    »Ich denke gerade an Mrs. Sunberry.«
    »Blaubeerkuchen«, murmelte Ty, »mit gebackenem Eischnee und Zimt.«
    Chris lachte.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher