Die Verfuehrerin
später sah sie das obere Ende einer Leiter am Erkerfenster vorbeischweben und sich gegen den Dachvorsprung lehnen. Mit angehaltenem Atem sah sie nach unten, wer da zu ihrer Rettung heraufkam - oder zu ihrer Bestrafung.
Ihre Erleichterung, als sie Tynan auf der Leiter auftauchen sah, war groß. »Wie haben Sie das gewußt?« fragte sie.
Er legte nur den Finger auf die Lippen zum Zeichen, daß sie schweigen müsse, und deutete ihr dann durch Zeichen an, daß sie ihm die Hand geben solle. Er führte sie um den Sims herum und stellte sie dann, den Arm schützend um ihre Taille gelegt, auf die Leiter.
Als sie schließlich, er immer unter ihr kletternd, den sicheren Boden erreicht hatten, klammerte sie sich einen Moment lang an ihm fest. »Ich hatte ja solche Angst.«
»Sie werden noch mehr Angst haben, wenn Hamilton herausfindet, daß Sie ihn bespitzeln«, sagte er, während er ihre Arme von seiner Taille schälte. »Und nun wollen wir uns von hier verdrücken, ehe Hamilton uns entdeckt.«
Chris wandte sich ab, gerade noch rechtzeitig, um einen Schatten um die Hausecke huschen zu sehen. »Ty! Da ist jemand gewesen!«
»Das ist nur Lionel. Er hat mir ja verraten, wo Sie stecken. Kommen Sie!«
Sie rannte hinter ihm her auf einen Pfad, den sie vorher noch nicht gesehen hatte, zu einem kleinen Haus, das unter Bäumen versteckt lag. Als Ty dort die Leiter an zwei Bügeln unter der Dachrinne aufhängte, entdeckte sie Blut auf der Rückseite seines Hemds.
»Ty, Sie bluten ja!«
»Nein, das sind Sie«, sagte er, nahm ihr Handgelenk, drehte ihre Handfläche nach außen und betrachtete die Stelle, wo sie sich die Haut abgeschürft hatte. »Kommen Sie ins Haus, damit wir die Wunde reinigen und Sie mir erklären können, was Sie dort oben im Dachgeschoß suchten.«
»Ich habe gelauscht«, sagte sie, während er sie ins Haus hineinzog. Das >Haus< bestand nur aus einem Raum - die eine Hälfte mit einem Herd, die andere mit einem großen Doppelbett ausgerüstet. »Leben Sie hier mit Pilar?« fragte sie leise.
»Ja«, antwortete er, während er ihre Hand über eine Schüssel mit Wasser hielt und die wunden Stellen zu säubern begann.
»Kennen Sie sie schon lange?«
»Seit Jahren.«
»Und sie hat Sie niemals verraten?«
»Dazu bestand wohl kein Grund. Wir standen auf derselben Seite. Halten Sie die Hand still, damit ich sie untersuchen kann.«
»Auf derselben Seite?« wiederholte Chris mit großen Augen. »Soll das bedeuten, daß Sie eine weibliche Gesetzlose ist?«
»Klar. Sie kann schneller ziehen als jeder Revolverheld.«
»Oh! Sie machen sich über mich lustig!«
Er blickte zu ihr hin, den Kopf über ihre Hand gebeugt. »Das war sehr unklug von Ihnen, daß Sie aus dem Fenster gestiegen sind. Wenn Hamilton sie dort entdeckt hätte...«
»Aber es hat sich gelohnt. Ich hörte, wie Owens Besucher sich nach Lionel erkundigte. Er sagte- und jetzt zitiere ich wörtlich: >Haben Sie den Namen des kleinen Bastards schon auf die Dokumente bringen können ?< Hört sich das nicht so an, als hätten sie schlimme Dinge mit ihm vor?«
Ty öffnete eine kleine Zinnschachtel auf einem Wandbrett neben dem Herd und entnahm ihr saubere Bandagen. »Nein, das hört sich so an, als habe er Lionel persönlich kennengelernt. Der Junge ist ein kleines Scheusal.«
»Warum hat er Ihnen dann geholfen... Au!«
»Wenn Sie die Hand stillhalten würden, täte ich Ihnen auch nicht weh. Lionel und ich haben ein Abkommen.«
»Er sagte, er glaubt, Sie wären ein Bankräuber.« »Hin und wieder. Schlaues Bürschchen. Setzen sie sich hin, während ich Ihnen Milch und ein paar Plätzchen bringe. Ich brauche eine Stärkung.«
»Habe ich Ihnen Angst gemacht? Warum hat Lionel mich nicht verraten? Und warum kam er zu Ihnen? Wer hat die Plätzchen gebacken?«
»Pilar hat die Plätzchen gebacken«, sagte er und setzte sich ihr gegenüber an den rohgezimmerten Tisch. »Und Lionel ist mein treuester Helfer, seit ich ihm die Peitschenschnur um den Hals geringelt habe.«
Chris nahm ein Plätzchen vom Teller, legte es dann aber wieder zurück. Sie merkte, daß ihre Hände zitterten, und langte nach Tynans Whiskyglas. Im Austausch dafür trank er ihre Milch und begann die Plätzchen aufzuessen.
»Wir reiten morgen nach Hause«, sagte Ty, ohne sie anzusehen.
»Und überlassen Lionel seinem Schicksal, nicht wahr?«
»Das ist nicht Ihr Problem.«
»Haben Sie schon jemals etwas von Samuel Dysan gehört?«
»Nein, und wechseln Sie mir jetzt nicht das Thema.
Weitere Kostenlose Bücher