Die Verfuehrung Des Ritters
nicht sicher, ob sie ihn gesehen hatte. Aber er hoffte es. Er hoffte, dass sie ihn gesehen und in dem Augenblick gespürt hatte, wie die Verzweiflung sich ihrer bemächtigte. Er hoffte, dass sie die gleiche Verzweiflung spürte wie er damals, als er erfahren musste, dass sein Zuhause für immer an Ionnes de l'Ami gefallen war, an seinen Ziehvater, den er einst so sehr geliebt hatte. Das lag nun achtzehn Jahre zurück. Und ja, sie sollte sich genauso verzweifelt fühlen wie er, als er erfahren hatte, dass auch de l'Amis Tochter ihn verraten hatte.
Er wandte sieh wieder an Alex, auch wenn es ihn Mühe kostete, sich wieder auf die Dinge zu konzentrieren, die wichtig waren. »Wann bist du zurückgekommen?«
»Erst vor Kurzem. Ich bin den ganzen Tag nach Süden geritten. Die Nachricht, dass eine Armee des Königs uns angeblich von unsere Nachhut abschneidet, war nur ein Gerücht.«
Griffyn wandte sich wieder zur Burg um. »Gut.«
Eine Weile waren beide Männer still. Dann sagte Alex: »Wir sollten über die Westseite angreifen. Ich weiß, du hast es anders geplant, aber ...«
»Nein.«
»Pagan, die Mauer ist dort brüchig und wird wie morsches Holz in sich zusammenfallen.«
»Diese Burg ist meine Heimat«, murmelte er. Alex schwieg.
Sie standen beisammen, bis die heraufziehende Morgendämmerung den Horizont im Osten grau färbte. Im Lager regten sich die ersten Männer. Es gab eine kalte Mahlzeit, dann nahmen Griffyns Krieger ihre Posten ein. Ein erster rosiger Streifen schimmerte am Himmel, als Griffyn Noir sattelte. Die dunkle Nacht wurde vom Licht des neuen Tages vertrieben.
Eine frische Morgenbrise wehte aus den Wäldern heran und raschelte im vertrockneten Gras unter ihren Füßen. Die Geräusche klangen gedämpft, als seine Männer leise aufsaßen. Noir stampfte auf und zog ungeduldig am Zügel.
Griffyn setzte sich seinen Helm auf und schloss ihn. »Bringen wir es hinter uns.«
Gwyn hörte den Feind, ehe sie ihn sali, obwohl sie mit Fulk, dem Hauptmann ihrer Wache, auf dem Turm stand, der nach Osten zeigte. Sie warteten darauf, dass der Krieg über sie hereinbrach. Das Geräusch der herannahenden Armee klang wie der Wind, der in den Baumkronen rauschte.
Es gab keine Hoffnung für sie, einer Belagerung lange standzuhalten. Darum hatte Gwyn sich zuerst ausgiebig mit Fulk beraten und anschließend ihr Herz befragt, ehe sie zustimmte, eine Streitmacht auszusenden. Zu wenige hielten noch zum König, zu wenige wollten noch weiterkämpfe. Wenn König Stephen diese Festung im Norden verlor, dann würde das Reich vollends ausbluten. Und sein Sohn, der Prinz... Er lag sterbend in ihrem Verlies. Ihr blieb gar keine andere Wahl. Everoot musste kämpfen.
Die Tore wurden geöffnet, und ihre Ritter und Bewaffneten marschierten hinaus. Im selben Moment tauchte auf der Hügelkuppe die Armee des Gegners auf. Die Angreifer blieben stehen, und ihr Anführer galoppierte vor ihren Reihen auf und ab.
Er ritt ein riesiges, grobknochiges schwarzes Pferd, dessen Mähne im Wind wehte.
Gwyns Augen weiteten sich. Ein großes schwarzes Streitross?
Der behelmte Ritter hob eine Hand, dann senkte er sie wieder. Seine Kavallerie preschte den Hügel herunter. Grassoden und Erdklumpen flogen unter den wirbelnden Hufen auf.
Gwyns Kehle wurde eng. Das Donnern der Hufe übertönte das heftige Hämmern ihres Herzens. Auf den Schilden des Feindes glänzte das Sonnenlicht. Gwyn war wie geblendet, Tränen traten ihr in die Augen. Die Angreifer stürmten auf die Burg zu, Angreifer, die Helme und Rüstungen trugen und die Lanzen zum tödlichen Stoß gesenkt hatten. Das waren keine Menschen mehr, sondern nur noch Waffen des fitzEmpress.
Aber dann, ohne ersichtlichen Grund, brachen sie den Angriff ab. Die Reiter richteten sich in den Sätteln auf und zogen die Zügel an. Die schnaubenden Streitrösser erhoben sich auf die Hinterbeine, und die Reihen der heranstürmenden Ritter verharrten.
War das ein Hinterhalt?
Gwyns Streitmacht bestand vor allem aus Fußsoldaten, die in unregelmäßigen Reihen vorgerückt waren und die nun ebenfalls innehielten. Sie standen absolut still, wie die Figuren auf einem Schachbrett. Ein überraschend kalter Wind wehte durch das Tal, und alle überlief in der plötzlich einsetzenden Stille ein Frösteln.
»Bevor das Blutvergießen beginnt, gibt er uns die Möglichkeit, uns zu ergeben«, erkannte Fulk.
»Wer ist er?«, fragte Gwyn und blinzelte gegen das Sonnenlicht. »Wer wagt es ...«
Ihr blieben die Worte im
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